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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare
Autoren: Léo Malet
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Schwester das Opfer einer Erpressung gewesen war, trug er noch keinen Bart. Ich wies ihn darauf hin, aus reiner Höflichkeit, um ihm das Gefühl zu geben, daß ich mich für seine Person interessierte. Der Teufel alleine wußte, wie egal er mir war!
    „Die kleinen Freiheiten eines Gefangenen“, sagte er lächelnd und strich sich über den Bart. Dann, mit übertrieben leiser Stimme, was sich wohl besonders konspirativ anhören sollte: „Wie ist es möglich, daß ein so raffinierter Detektiv wie Sie noch nicht geflohen ist?“
    Ich antwortete, daß ich schon seit langem keinen Urlaub genommen hätte und diese Gefangenschaft so was Ähnliches für mich sei. Warum solle ich sie dann freiwillig abkürzen? Außerdem tue die frische Luft meiner angegriffenen Gesundheit ausgesprochen gut. Und dann, unter uns gesagt: Sei ich nicht speziell deshalb hier, um mit meinem fabelhaften Spürsinn den Drückebergern auf die Schliche zu kommen? Und so weiter, und so fort. Im Laufe des Gesprächs erzählte ich ihm, daß ich seit gestern arbeitslos sei. Die Aufnahme sei bis auf weiteres abgeschlossen, und wir würden unsere Blaustifte frühestens in drei Wochen wieder in die Hand nehmen. Ob er mir nicht einen Posten im Lazarett verschaffen könne, zum Beispiel als Sanitäter?
    Er sah mich an, wie er wohl im zivilen Leben die Hausangestellten ansah, die sich bei ihm vorstellten. Das gefiel mir schon mal überhaupt nicht. Schließlich stieß er durch seine schmalen Lippen ein „Jajaja“ aus, ich solle morgen früh zu ihm aufs Krankenrevier kommen.
    Wir gaben uns die Hand.
    Ich schlug meine Pfeife an den Holzstufen aus. Anstelle der Asche, die ich über das spärliche Heidekraut streute, stopfte ich das polnische Zeug in meine Pfeife, das uns in der Kantine als Tabak verkauft wurde. In Wirklichkeit war es eine Art Dynamit, das die Gedärme erzittern ließ. Bestens geeignet, um die Gegend einzuräuchern und einen staubigen, angenehm bitteren Gestank zu verbreiten.

    * * *

    Mit seinem höflichen Getue konnte der aalglatte Doktor Dorcières Eindruck machen. Aber wenn es um einen Gefallen ging, konnte man nicht mit ihm rechnen.
    Meine Sache zog sich in die Länge — falls der Doktor sich überhaupt darum kümmerte. Hätte es nur an ihm gelegen, dann wäre ich bald wieder abmarschiert. Ich will nicht behaupten, daß es mir schlechter ergangen wäre, aber ich hatte nun mal eine Schwäche für Stacheldraht; und die Wachtürme sahen bei Sonnenuntergang irgendwie heilig, unantastbar aus, was mein ästhetisches Empfinden befriedigte.
    Zum Glück saß ein Freund von mir an entsprechender Stelle: Paul Desiles, ebenfalls Arzt, klein, mit blondem Kraushaar und einem sympathischen, breiten Gesicht. Im Handumdrehen verschaffte er mir einen Posten im Lazarett. Dort hatte ich mehrmals Gelegenheit, die Nummer 60 202 zu sehen.
    Sein Zustand war immer noch beunruhigend. Nach Überzeugung der deutsch-französischen Kapazitäten war der Mann alles andere als ein Simulant. Als unheilbarer Fall sollte er mit dem nächsten Transport in die Heimat geschickt werden. Bis dahin verbrachte er seine Tage am Lagerzaun, zwanzig Meter von den spanischen Reitern entfernt. Dort saß er, das Kinn in seine fein-gliedrigen Hände gestützt, den Blick verlorener denn je.
    Immer wieder versuchte ich, mit ihm in ein vernünftiges Gespräch zu kommen. Verlorene Liebesmüh! Nur einmal sah er mich mit gewissem Interesse an und fragte:
    „Wo hab ich Sie schon mal gesehen?“
    „Mein Name ist Nestor Burma“, sagte ich, am ganzen Körper bebend bei dem Gedanken, ich könnte das Geheimnis dieses Unglücklichen lüften. „Im zivilen Leben bin ich Privatdetektiv...“
    „Nestor Burma“, murmelte er mit veränderter Stimme.
    „Ja, Nestor Burma. Vor dem Krieg hab ich die Agentur Fiat Lux geleitet.“
    „Nestor Burma“, wiederholte er.
    Er wurde blaß, so als gebe er sich große Mühe. Seine Narbe auf der Wange trat noch deutlicher hervor, dann seufzte er schmerzerfüllt und sagte mit einer müden Handbewegung:
    „Nein... Der Name sagt mir nichts.“
    Mit zitternder Hand zündete er sich eine Zigarette an und schlurfte zum Stacheldraht, um sich wieder dort hinzustellen, den Blick auf den Wachturm und das Wäldchen gerichtet.

    * * *

    Die Tage vergingen, die Wochen, die Monate. Einige Schwerverwundete waren bereits auf dem Weg nach Frankreich abtransportiert worden. 60 202 hatte Pech. Seine Nummer, die eigentlich ganz oben auf der Liste stand, wurde von einem nachlässigen
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