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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare
Autoren: Léo Malet
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warum auch ich einen Augenblick lang geglaubt hatte, sie schon mal gesehen zu haben.
    „Ich werd sie um ein Autogramm bitten“, sagte Edouard, der sich ganz sicher war. „Das kann sie einem Kriegsgefangenen nicht abschlagen...“
    Er drängte sich auf den Gang hinaus und wollte aussteigen, wurde aber vom Zugführer daran gehindert. Der Zug fährt sofort ab.
    In diesem Augenblick sah ich auf dem Bahnsteig einen Mann, den ich unter Tausenden wiedererkannt hätte. Er trug einen Kamelhaarmantel und eine helle Sportmütze. Er ging schnell, eine Schulter vorgebeugt, so als würde er am Laufen gehindert. Das war unverkennbar Robert Colomer, mein Bob von der Agentur Fiat Lux, wie er in den Cafés auf den Champs-Elysées genannt wurde.
    Ich schob das Fenster runter und brüllte, wild gestikulierend:
    „Colo! He, Colo! ...“
    Er drehte sein Galgenvogelgesicht in meine Richtung. Anscheinend sah er mich nicht, oder er erkannte mich nicht gleich. Hatte ich mich so sehr verändert?
    „Bob!“ rief ich. „Colomer! ... Erkennst du deine Freunde nicht mehr? Burma... Nestor Burma! Ganz frisch aus der Sommerfrische zurück!“
    Bob stand neben einer Frau vom Roten Kreuz. Plötzlich gab er einen lauten Fluch von sich und rempelte die Dame an.
    „Burma! Burma!“ keuchte er. „Sie hier?! Steigen Sie aus, verdammt nochmal! Steigen Sie aus... Ich hab was Tolles rausgekriegt...“
    Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Die Soldaten an den Türen schwenkten ihre Mützen. Der Bahnhof war erfüllt von Lärm, übertönt von einer geschmetterten Marseillaise. Colomer war auf das Trittbrett gesprungen und klammerte sich mit beiden Händen an das offene Abteilfenster. Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht wie in einem unerträglichen Schmerz.
    „Chef“, brüllte er, „120, rue de la Gare...“
    Er ließ das Fenster los und fiel auf den Bahnsteig zurück.
    Ich rannte durch den Gang, räumte den Zugführer aus dem Weg, öffnete die Zugtür und sprang hinaus. Die Tür fiel wieder zu und klemmte meinen Mantel ein. Ich wurde mitgerissen, sah mich schon unter den Rädern liegen. Wie im Traum hörte ich aufgeregte Frauenstimmen kreischen. Mein Körper tat überall weh. Ein Soldat der Ehrenwache stürzte herbei und befreite mich, indem er mit seinem Bajonett den Mantel durchschlug. Ich blieb wie tot liegen, den Blick auf die eiserne Kuppel des rußschwarzen Bahnhofs gerichtet, unfähig, wieder auf die Beine zu kommen.
    „Der ist besoffen, Scheiße“, knurrte ein Uniformierter.
    Um mich herum hatte sich ein lärmender Kreis gebildet. Ich sah von einem zum anderen, soweit es mir möglich war. Nicht daß ich irgend jemanden suchte... Ich wollte mich nur vergewissern, ob meine Augen noch einwandfrei funktionierten, daß sie soeben nicht das Opfer einer Täuschung gewesen waren.
    Als Colomer nämlich mit dem Gesicht auf den Bahnsteig gefallen war, hatte ich den Rücken seines Mantels genau gesehen... durchlöchert von einem Kugelhagel... und genau gegenüber, neben dem Zeitungskiosk, eine geheimnisvolle Frau im Trenchcoat, in ihrer Hand etwas Glänzendes aus Stahl, das in dem schwachen Licht der Gaslaterne blinkte.

Nächtliche Unterhaltung

    Ohne daß ich so richtig merkte, was mit mir geschah, wurde ich auf eine Bahre gelegt und in einen Ambulanzwagen geschoben. Von dem Gestank nach minderwertigem Benzin und Jodoform wurde mir ganz schlecht.
    Im Hospital legte man mich in ein relativ weißes Bett. Der Arzt, der mich untersuchte, war dick, mit rosigem Gesicht, und gutgelaunt. Er hielt mich für betrunken (tatsächlich roch mein Atem nach Wein) und machte blöde Witze über die Kriegsgefangenen, beruhigte mich aber, was meine Prellungen betraf. Ein paar Massagen, und ich könne wieder mit meinen Kunststücken beginnen, wenn mir danach sei. Dem Soldat der Ehrenwache hätte ich ‘ne Menge zu verdanken, sagte er mir noch. Daran zweifelte ich nicht.
    Dann wurde mir ein Verband angelegt. Die Krankenschwester war weder jung noch hübsch. Ich weiß, das sind die besten, aber da mein Zustand nicht alarmierend war, hätte man mir ruhig eine Schönheitskönigin zuteilen können.
    Jetzt lag ich allein in dem dämmrigen Zimmer. Obwohl mir alles wehtat, rührte ich die schmerzstillenden Tabletten nicht an, die man mir auf den Nachttisch gelegt hatte. Ich wollte nachdenken.
    Lange hatte ich keine Gelegenheit dazu. Kurz nachdem eine Kirchturmuhr vier geschlagen hatte, kam die Krankenschwester zurück. Hinter ihr schob ein Mann eine Bahre ins Zimmer. Mit
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