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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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sein.
     
    Es gab keine Überraschungen. Bereits am späten Vormittag des folgenden Tages hatten die Deutschen Capuani gefunden. Sie fuhren mit ihm genau zu der Stelle, an der Hartmann hingerichtet worden war. Fragten ihn, ob er der Organisator des Aufstandes sei, und er bejahte. Sie boten ihm makaber eine scheinbare Alternative an, als sie ihn vor die Wahl stellten, ob er sich den neuen Machthabern anschließen wolle. Natürlich lehnte er ab, und sie schossen ihm ins Genick. Sein letzter Bewusstseinsblitz war das Wort, mit dem er antwortete. Er hätte »Nein« entgegnen können. Er antwortete: »Niemals«. Sogar als eine Pistole auf ihn gerichtet war und als seine restliche Lebenszeit nur noch eine lächerlich geringe Tiefe aufwies, machte er diesen wunderbaren, winzigen Unterschied, womit es ihm gelang, die Mauern des Universums auseinanderzudrücken. Dieses »Niemals« umschloss die Sekunden vor dem sicheren Tod und die anschließende Ewigkeit und trotzte der Grenze, die dieser Tod hätte sein können. Dieses »Niemals«, das vom ganzen deutschen Bataillon vernommen wurde, versprach eine Fortsetzung, es war ein frei gefasstes Vorhaben. Dieses eine schlichte Wort hatte ihm genügt, um etwas über sich, aber zugleich über all die Rebellen auszusagen, die weitermachen und diesem »Niemals« Leben einhauchen würden. »Nein«, das wäre einer Kapitulation vor einer blinden Mauer gleichgekommen. »Niemals«, das stand zwar vor derselben Mauer, deutete aber auf die Risse darin und sagte ihr Einstürzen voraus. Es war ein Projekt, eine Ankündigung und eine Kampfansage.
     
    Es war der 27 . September 1943 . Die Nachricht von Capuanis Tod erreichte das Lager umgehend und läutete dessen Ende ein. Sie ließ die Toten vom Vortag wieder hervortreten, und die vom Tag davor, die Zeit, die sie der Gefahr entrissen hatten, um zusammen die besten Entscheidungen zu treffen, die Zeit, die sie dem Schmerz entrissen hatten, damit sie schnell begraben und versuchen konnten zu leben. Capuani tot, das war zugleich das, was für alle am schwersten zu akzeptieren war, und eine fast banale Neuigkeit, vorhersehbar und unoriginell. Was sie zuvor als Skizze entworfen hatten, wurde umgesetzt, die Zerstreuung des Lagers wurde angeordnet. Kommunisten oder Slawen, Unabhängige oder Angehörige der Aktionspartei, die alten Gruppen fanden sich wieder zusammen. Jeder nahm so viele Waffen mit, wie er konnte. Manche machten sich allein auf den Weg, um unauffällig nach Hause zurückzukehren, wo sie ihr gewohntes Leben wieder aufnahmen, bis zum nächsten Aufstand. Da war ein Student auf einem Fahrrad, da war ein alter Mann, der sich, sobald er sich wieder auf dem Weg nach Teramo befand, Jacke und Hose abklopfte, die nach feuchtem Gras rochen, und in sein Dorf zurückkehrte, als hätte er nur eben ein paar Besorgungen gemacht. Aber dafür musste man einen solchen Ort haben, wo man sich eine Zeit lang unauffällig zurückziehen konnte. Für viele ging es nahtlos weiter. Die bewaffneten, organisierten Gruppen schlugen verschiedene Wege ein. Es gab Kommandos, denen man sich anschließen würde, Partisanengruppen, zu denen man dazustoßen oder die man gründen würde. Blieben noch die Flüchtlinge aus den Lagern. Für diejenigen unter ihnen, die nicht für eine Sache kämpften, sondern um ihr Leben, gab es eigentlich nichts, das ihnen vorschrieb, was sie tun sollten. Sie alle hatten gewaltsam die Türen der Lager aufgestoßen, jetzt öffnete sich ihnen die Welt. Der Aufstand war ein Vorraum gewesen. Was jetzt vor ihnen lag, waren dreihundertsechzig Grad voller Fallen und voller Leben. Und Bosco Martese wurde zu einem zusammengeschnürten Bündel in ihrer Erinnerung.
     
    In einem Konzentrationslager in Italien eingesperrte Chinesen: Irgendwann hatte es ein Ende. Aber was für eines? Zu welchem Zeitpunkt der Geschichte endet dieses Fragment? Wo reißt der Faden ab? Der Faden reißt nicht ab. Es gibt Daten, aber es gibt auch verborgene Auswirkungen, die darüber hinaus andauern. Bosco Martese ist der Ort, an dem ein Stückchen Freiheit und einige der Chinesen aufeinandertreffen. Es ist der Moment, in dem sie davonkommen, in dem die düstere Utopie ihres Martyriums endgültig zerbricht. Nach jener Morgendämmerung im Herbst 1943 hätte die weitere Geschichte die Form eines Mosaiks. Isola hat sich hinter denen, die im September nicht ihre Chance bekommen hatten, wieder geschlossen. Die Region erlebte einen eisernen Winter voller Eis und Schnee. Eine lange
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