Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
106 - Schatten des Krieges

106 - Schatten des Krieges

Titel: 106 - Schatten des Krieges
Autoren: Claudia Kern
Vom Netzwerk:
zwei denken, da wollte er sie nicht noch unnötig mit alten Fragen belasten.
    »Du bist erschöpft«, sagte er, nach einem Blick in ihre rot unterlaufenen Augen. »Leg dich hin. Ich halte Wache, solange ich kann.«
    Sie widersprach nicht, obwohl niemand wusste, wie lange es bis zu seiner nächsten Lethargie dauerte. Sie schlurfte einfach zu den Büschen, zwischen denen sie ein Deckenlager errichtet hatte. Ohne ein Wort des Abschieds oder einer letzten Geste.
    Nicht einmal ein kurzes Streicheln über seine Wange. Sie legte sich einfach hin, schloss die Augen und begann übergangslos zu schlafen. Er erkannte es an dem einsetzenden Atemrhythmus, der ihren Brustkorb gleichmäßig hob und senkte.
    Der Cyborg schaute über die Prärie hinaus, doch so sehr er auch die mandelförmigen Augen weiter verengte, mehr als die Wogen des im Wind wiegenden Präriegrases war nicht zu entdecken. Mit funktionierendem Rezeptionsverstärker hätte er das Vierzigfache der jetzigen Entfernung absuchen können, aber es war müßig, über Dinge zu spekulieren, die nicht realisierbar. Er musste sich auf das konzentrieren, was ihm zur Verfügung stand. Etwa auf das neu erworbene Wissen, das er festhalten musste, bevor es ihm wieder entglitt.
    Hastig klopfte er seine Taschen ab, bis er auf den metallenen Schreiber stieß, den er bereits benutzt hatte. Während der linke Arm funktionslos an ihm herunter hing, agierte die Rechte um so geschickter. Einhändig zog er den Stift hervor, entfernte die blaue Kappe und klemmte das stumpfe Ende zwischen die Zähne. Dann hob er die Hand, bis die Haut von der blau getränkten Spitze berührt wurde. Es war nicht leicht, auf diese Weise das Wort TREIBSTOFFLAGER durchzustreichen, doch er schaffte es. Stattdessen fügte er ein Stück darunter PALES hinzu.
    Mit etwas Glück nutzte es vielleicht etwas.
    ***
    Crow war nicht überrascht, als es an der Tür zu seinem Quartier klopfte. Es war ein aufdringliches, forderndes Klopfen, das weniger als eine Stunde nach Hymes' Rede stattfand und die Identität des Besuchers bereits vor dessen Eintreten verriet.
    »Es ist offen, Senator«, sagte Crow. Er machte sich nicht die Mühe aufzustehen oder seine Uniformjacke zu schließen. Der Anlass dieses Besuchs war nicht offiziell, eher im Gegenteil, wenn er richtig vermutete.
    Senator Gerner schloss die Tür hinter sich und betrat den Raum. Er war ein stark übergewichtiger alter Mann mit hängenden Wangen und strahlend weißen, buschigen Augenbrauen.
    »Haben Sie davon gewusst?«, fragte er.
    Crow füllte ungefragt ein zweites Glas mit Whisky und schob es über die Schreibtischplatte. »Ja, der Präsident hat mit mir darüber gesprochen.« Er warf einen Blick auf den stumm geschalteten Wandmonitor, auf dem selbst ernannte politische Experten die Rede kommentierten. Zahlreiche Bunkerbewohner hatten bereits in der Sendung angerufen, um ihre Meinung mitzuteilen, und bisher war das Echo wesentlich positiver als er erwartet hätte.
    Die Menschen, die seit langer Zeit mit Halbwahrheiten und Gerüchten lebten, sehnten sich nach einer neuen, offeneren und vor allem friedlicheren Welt. Besonders die gescheiterte zweite Kratermission mit ihren Dutzenden von Toten hatte die Stimmung im Bunker verändert. Den Falken, wie man die konservativ-imperialistische Fraktion im Parlament nannte, liefen die Anhänger weg.
    Nutznießer waren die sogenannten Tauben, die Verfechter einer friedlichen Koexistenz.
    Doch selbst für diese Gruppe war Hymes' Richtungswechsel provokant.
    »Und Sie konnten ihm diesen Blödsinn nicht ausreden?«
    Gerner setzte sich auf einen Stuhl an der anderen Seite des Schreibtischs. Sein massiger Körper verdeckte den Monitor.
    »Er ist der Präsident, Senator«, sagte Crow. »Es ist nicht meine Aufgabe, ihm etwas auszureden.«
    »Es sollte aber verdammt noch mal Ihre Aufgabe sein, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Gerner trank das Glas in einem Zug aus und griff nach der Flasche. Er war der Sprecher der Falken und einer der umstrittensten Politiker im Bunker. Seit dem ersten Kontakt mit der Londoner Community plädierte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit für deren Vernichtung.
    Seine Ansichten waren selbst Crow zu radikal.
    »Wie ist er denn auf diesen gottverdammten Schwachsinn gekommen?«, fuhr Gerner nach einem weiteren Schluck Whisky fort. »Öffnung nach außen, vorbehaltlose Kooperation mit den Europäern, ein Bildungsprogramm für die Bevölkerung an der Oberfläche. Was kommt als nächstes: Disneyland
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher