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100 - Die gelbe Villa der Selbstmoerder

100 - Die gelbe Villa der Selbstmoerder

Titel: 100 - Die gelbe Villa der Selbstmoerder
Autoren: Hugh Walker
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Die Luft war geladen mit Elektrizität. Sie krabbelte auf der Haut wie etwas Lebendiges. Die Menschen saßen starr in ihren Wohnungen. Abergläubische Scheu war in ihren blassen Gesichtern. Sie zuckten zusammen unter den gleißenden Blitzen und duckten sich unter der Wucht des Donners.
    Es war kein gewöhnliches Gewitter.
    Es war das Donnern der Tore der Hölle, die sich aufgetan hatten. Es war der Schein des ewigen Feuers, der in diese Welt leuchtete.
    Es galt auf der Hut zu sein. Etwas Grauenvolles geschah in diesem, Augenblick. Weh dem, dessen Tür offenstand! Dunkle Schatten huschten über die Fenster und rüttelten an den Scheiben.
    Es war nicht der Wind. Es war etwas Lebendig gewordenes, etwas Erwachtes, das durch die Straßen jagte. Etwas Namenloses.
    Etwas das Rache suchte, oder Blut.
    Etwas, das sein Opfer finden würde – wie immer. Selbst die Toten erwachten in ihren Gräbern in diesem Aufruhr der Elemente. So plötzlich wie es gekommen war, hörte das Unwetter auf, und die Menschen wagten wieder zu atmen. Die tiefen Wolken, die wie ein drohendes Ungetüm über dem Tal hingen, brachen auf und ließen das spärliche Licht der Abenddämmerung durch. Die Bäume, die Straßen, die Dächer und die Mauern der Häuser glänzten naß. Der blutrote Schein der Abendsonne schnitt wie ein Messer über den Himmel und ließ die klaffenden Wolken wie Wunden erscheinen.
    Das blonde Mädchen, das den schmalen Weg von der Bushaltestelle entlang eilte, sah sich ängstlich um. Sie mochte etwa zehn sein. Der Wind zerrte an ihren Kleidern. Sie bemühte sich vergeblich, die Kapuze ihrer Windjacke über den Kopf zu ziehen.
    In ihren dunklen Augen lag ein Ausdruck instinktiver Furcht. Ihr hübsches Gesicht war zum Weinen verzogen. Aber sie weinte nicht. Sie begann zu laufen, und ihr Herz schlug bis zum Hals. Als sie die ersten Häuser des Dorfes erreichte, verfiel sie wieder in raschen Schritt.
    Es hatte ein ähnliches Gewitter gegeben, damals, als Mama gestorben war. Das war es, womit ihre Gedanken sich unaufhörlich beschäftigten. Vor zwei Jahren. Und die Leute hatten sich in den Häusern versteckt – wie jetzt.
    Sie hastete durch das Dorf. Hier und dort bemerkte sie bleiche Gesichter an den Fenstern. Nicht einmal Hunde waren auf der Straße. Ob sie sich auch verkrochen hatten?
    Die Straße machte eine leichte Biegung. Erleichtert bemerkte das Mädchen, daß zu Hause Licht brannte. Die beiden Fenster im Erdgeschoß waren hell erleuchtet. Auch im Stiegenhaus war das Licht an. Durch das Glas der Haustür sah sie eine Gestalt stehen. Onkel Paul. Er kam wahrscheinlich heraus, um nach ihr zu sehen. Sie winkte. Aber natürlich konnte er sie durch das Glas nicht sehen. Sie lief das letzte Stück bis zur Gartentür. Erleichtert schloß sie sie, als könnte sie damit das Unheimliche ausschließen, das über dem Dorf zu brüten schien.
    Als sie vor der Haustür anhielt, bemerkte sie erstaunt, daß Onkel Paul noch immer innerhalb der Tür stand und durch das Glas starrte. Verwundert sah sie genauer hin, preßte ihre Nase an das Glas, fuchtelte mit den Armen und schnitt eine Grimasse.
    Seine Augen waren weit geöffnet und auf sie gerichtet. Er mußte sie sehen, aber er regte sich nicht. Seine Arme hingen schlaff an der Seite. Er stand auf Zehenspitzen.
    „Onkel Paul!“ rief sie halblaut und klopfte leicht gegen das Glas.
    Er rührte sich nicht. Furcht krampfte ihr Herz zusammen. Sie drückte die Klinke nach unten. Die Tür war verschlossen. Hastig suchte sie nach ihrem Schlüssel, fand ihn und sah gleich darauf, daß bereits innen einer steckte. Verzweifelt trommelte sie gegen die Tür. „Onkel Paul“, schluchzte sie. „Laß mich doch rein! Was hast…?“
    Sie brach ab, als ihr Blick auf etwas fiel, da s sie vorher nicht bemerkt hatte.
    Ein Strick. Er kam von oben aus dem Stiegenhaus herab und endete an Onkel Pauls Hals.
    Während sie erstarrt dastand, gelähmt von der schrecklichen Wahrheit , kam eine verschwommene Gestalt aus dem Hintergrund des Stiegenhauses. Sie trug ein grünes Kleid, wie Mama es getragen hatte, als sie starb. Sie kam an die Tür und sah mit höhnischer Miene auf den reglosen Onkel Paul. Bei ihrem Anblick gab das Mädchen einen wimmernden Laut von sich.
    „Mami! Mami!“ schluchzte das Mädchen.
    Die Frau sah zu ihr. Sie streckte die Arme nach dem Mädchen aus. „Julia, mein Liebling“, sagte der Mund lautlos. Es war deutlich abzulesen. Dann verschwamm die Gestalt, wehte einen Moment schwerelos wie ein
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