Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0985 - Libertys Tränen

0985 - Libertys Tränen

Titel: 0985 - Libertys Tränen
Autoren: Simon Borner
Vom Netzwerk:
anmutende Kurator nun. »Er mag es nicht, wenn man Forderungen stellt. Oh, nein, das mag er nicht.«
    »Er?« Nicole zögerte. Noch immer wollte sie die Situation gütlich klären und sich Antworten erarbeiten. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass es gelingen würde - falls ihr Peiniger ihr die Chance dazu gab. »Von wem sprechen Sie, Mann? Wer steht hinter Ihnen? Verflucht, Jennings, ich kann Ihnen helfen! Sie müssen es nur zulassen.«
    »Ich muss…« Jennings seufzte. Er zog ein dickes Tuch aus der Tasche seines Tweedjacketts und trat damit auf den klobigen Spiegel zu, der auf der Bühne gleich neben dem Pfahl stand, an den er Nicole gefesselt hatte. »Ständig muss ich. Aber der Einzige hier, der mich müssen lassen kann, ist er! Verstehen Sie das denn nicht?«
    Er. Immer dieser er.
    Nicole spannte die Muskeln an und zog an den Seilen, die sie banden. Doch das nutzte nichts. Jennings mochte den Verstand verloren haben, aber er verstand auch ohne Verstand etwas von Knoten. Leider.
    »Wer ist das, Lyle? Wer zwingt Sie dazu, sich so zu verhalten?«
    Jennings strich nahezu liebevoll mit dem Tuch über das Holz, in das der Spiegel eingelassen war. Insgesamt maß das sperrige Stück, das wie ein aus Kolonialzeiten stammendes Exponat seines Museums wirkte, bestimmt einen Meter achtzig und sah aus, als sei es schwer wie Blei.
    »Wer?«, wiederholte der Kurator. Dann sah er von seinem sinnfrei wirkenden Treiben auf und Nicole direkt ins Gesicht. »Na, ich! Nur ich. Ich bin der Anfang und das Ende dieser Geschichte. Aber Sie verstehen sie nicht, nein, nein. Das ist schade, aber wann immer ich ihm sage, dass er auch Sie einweihen soll, damit Sie verstehen, warum Sie gerade dieses Schicksal ereilt, maßregelt er mich.« Nun verzog er das Gesicht, als hätte ihm jemand mit körperlicher Züchtigung gedroht. »Oh, und ich möchte nicht mehr gemaßregelt werden. Nein, das möchte ich nicht.«
    Na, prima, dachte Nicole fassungslos. Ich habe Amy verloren und befinde mich in der Gewalt eines alten Mannes, der gelegentlich übermenschliche Stärke besitzt und sich mal benimmt wie der unglaubliche Hulk, mal wie ein verängstigtes Kind. Ich kann mich kaum bewegen, mein Schädel dröhnt von der dauernden Betäubung, ich habe Zamorra seit einer gefühlten Ewigkeit nicht gesehen, und gleich regnet’s mir auch noch die schöne neue Fifth-Avenue-Bluse nass.
    Über dem Innenhof tobten die Gewalten des Wetters. Dunkle Wolken wirbelten regelrecht gegen- und ineinander, so schnell, als wäre das Firmament ein TV-Monitor, auf dem jemand das Programm auf schnellen Vorlauf gestellt hatte. Es versprach einen baldigen Wolkenbruch sintflutartigen Ausmaßes. Dämonisch grünes Leuchten blitzte zwischen den Wolken auf.
    »Deshalb«, fuhr Jennings fort, »wird es auch Zeit, dass ich tue, was er mir aufgetragen hat.« Er beendete seine Quasi-Liebkosung des eigenartigen Möbelstücks, nahm das Tuch und näherte sich mit diesem der wehrlosen Nicole.
    »Und was ist das? Lyle, reden Sie mit mir. Ich will Ihnen doch he…«
    Weiter kam sie nicht, denn Jennings nutzte die Gelegenheit, ihr das staubige Tuch in den Mund zu zwängen. Unmenschlich schnell zog er daraufhin eine Rolle Klebeband aus der anderen Jacketttasche und fixierte das Tuch, indem er ihr die Lippen zuklebte.
    »Sie helfen mir ja, Miss Duval«, sagte er dabei im Tonfall absoluter Gelassenheit und Ruhe. »Mehr, als Sie sich vorstellen können. Immerhin geht es hier um Sie. Die ganze Zeit schon. Wissen Sie das nicht?«
    Nicole riss die Augen auf. Lähmendes Entsetzen machte sich in ihr breit - nicht nur aufgrund der unsanften Behandlung, sondern weil der Spiegel plötzlich glühte.
    Das unheimliche Licht ging von dem eigenartigen Edelstein an seiner Spitze aus, sah sie. Und es strömte allen Naturgesetzen und aller Logik zum Trotz in die Spiegelfläche wie Meerwasser in den Bauch eines sinkenden Schiffes oder Sand in die untere Hälfte der Uhr, die der Schnitter seinen Opfern vorhielt, wenn die Stunde kam.
    Die Luft begann zu knistern. Das Licht verbreitete eine Wärme, die an Höllentiefen erinnerte. Jennings stand da und grinste ebenso debil wie zufrieden. »Es geschieht!«, rief er entzückt. »Es geschieht, Herr!«
    Chef, wo bleibst du?, dachte Nicole. Allmählich gingen ihr hier die Optionen aus.
    Dann, sie wollte gerade ihren Trumpf aus dem Ärmel ziehen und das Amulett rufen, schlugen zwei Blitze rechts und links von ihr in den Boden der aus Brettern gezimmerten Festbühne ein, laut und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher