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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten
Autoren: Simon Borner
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hier.«
    Robin zeigte mit dem Finger auf die Fotos, als könne er ihr Motiv durch diese hilflose Geste ungeschehen machen.
    »Und noch immer keine Spur vom Täter?«, fragte Jo. Robin ignorierte ihn.
    »Thomas Brewster hat eine Mutter in Dillon, Texas. Wussten Sie das, Jo? Sie ist ein Pflegefall, sitzt seit Jahren im Rollstuhl, lebt von der Wohlfahrt. Brewster hatte ein Sportstipendium in der Tasche, das ihn zur Uni gebracht hätte, raus aus der Armut. Als Quarterback.« Robin lachte humorlos. »Ich habe ihr dreimal erklärt, wer ich bin und was ich ihr zu sagen hatte, bevor sie mich verstand. Bevor sie begriff . Dann ist ihr der Hörer aus der Hand gefallen, und ich habe sie stöhnen gehört. Bis ihre Haushaltshilfe ans Telefon kam und mich so lange anschrie, bis ich auflegte.«
    Wisslaire schwieg, den Blick auf die Pinnwand gerichtet. Irgendwo draußen im Gang klingelte ein Telefon.
    »Ich will die Sau haben, Jo. Verstehen Sie? Ich will sie haben.«
    Aber ich glaube nicht, dass unsere gute alte Polizeiarbeit uns in diesem besonderen Fall allzu weit bringt , fügte er in Gedanken hinzu und wünschte sich inständig, mit dieser Einschätzung falsch zu liegen.
    ***
    Aus den Archiven der Hölle
    Es ist der Sommer 1995 und Sandrine Leroux sechzehn Jahre alt. Celine Dion dringt aus dem kleinen Radio in der Küche der Curdins, und Sandrine singt lautstark mit, als »Pour que tu m'aimes encore« in den Refrain übergeht. Seit Monaten schon läuft die Single überall rauf und runter, und ihre Mischung aus melancholischer Grundstimmung und tanzbaren Rhythmen ist genau das Richtige für Sandrines Stimmung. Wie so oft an diesem Tag, denkt sie an Gerard, während der Song läuft. Ihr Song, ihr gemeinsames Lied. Es ist immer noch in den Charts, auch wenn Gerard sie seit zwei Tagen nicht mehr sehen will.
    »Jean-Jacques hat das Album geschrieben«, erklärt sie dem Kleinen verschwörerisch, der ihr von der Decke, auf welcher er am Fußboden des Zimmers sitzt und mit unbeholfenen Patschehändchen nach Plastikklötzen greift, verständnislos entgegengrinst. »Kleiner Scheißer« hat sie ihn insgeheim getauft, doch solange er nur da hockt und mit sich selbst zufrieden ist, kann sie wenig gegen ihn sagen. Erst recht nicht bei der Kohle, die seine Eltern ihr dafür bezahlen, dass sie heute Abend wieder mal auf ihn aufpasst.
    Sandrine kniet sich hin und schaut dem Jungen ins Gesicht. »Aber das juckt dich nicht, oder? Wer Jean-Jacques Goldman ist, geht dir an deinem Pampers-ummantelten Gesäß vorbei. Genauso wie die Tatsache, dass er und Celine gerade mal eben das erfolgreichste französische Album aller Zeiten geschaffen haben.« Langsam nimmt sie ein Glas Babynahrung und einen Plastiklöffel vom Küchentisch und schraubt das Glas auf. » Je te donne? Sagt dir das was?«
    Luc schenkt ihr ein zahnloses Lächeln. Ein dicker Speicheltropfen löst sich dabei von seiner Unterlippe und seilt sich auf seinen blauen Strampelanzug ab, wo er einen dunklen Fleck hinterlässt. »Ferkel«, sagt Sandrine, steckt den Löffel in das Glas und sieht überrascht, wie Luc zeitgleich den Mund öffnet.
    Sie lacht. »Du weißt genau, was hier passiert, ja?«, fragt sie ihn in dieser ekelhaften, hohen Tonart, die so Grenzdebile wie seine Mutter anwenden, wenn sie mit Babys reden. »Ja, weißt du das? Siehst du, dass ich hier dein Happa habe, ja? Siehst du das?«
    Nach jedem Satz nickt sie dem Scheißer zu, wie sie es seine Mutter hat machen sehen, und Luc jauchzt vor Vorfreude. Zentrum der Welt , denkt Sandrine, hebt den Löffel aus dem Glas und hält ihn Luc hin. Strahlend öffnet er seinen Mund noch weiter und lacht dabei, als wäre die ganze Welt ein Film mit de Funes.
    Sandrine sieht ihn grinsend an - und zieht den Löffel wieder zurück. Steckt ihn sich in den eigenen Mund. Und das Lachen erstirbt.
    »Guck nicht so«, sagt sie abfällig. »Sieh's als wertvolle Lehrstunde. Man bekommt nicht immer, was man will, klar?« Abermals gönnt sie sich einen Löffel der breiigen Pampe, die nach Äpfeln schmeckt. Kein Wunder, dass er den ganzen Tag Stuhlgang hat - bei der Brühe müsste ich auch ständig laufen.
    Luc beginnt zu begreifen. Ihr Tonfall und das Spiel mit dem Löffel haben offenbar gereicht, um dem Kleinen deutlich zu machen, dass er hier veralbert werden soll. Sandrine lächelt, als sich seine Unterlippe vorschiebt und ein enttäuschtes Gurgeln aus seinem Hals dringt. Und schiebt sich dann den dritten Löffel rein.
    Schmatzend greift sie sich einen
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