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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten
Autoren: Simon Borner
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sagte Luc schlicht. »Auf dein Wohl.« Nur mit Mühe verkniff er sich ein zufriedenes Lächeln; Luc wollte cool wirken, da konnte er es sich nicht anmerken lassen, wie stolz ihn Etiennes Anerkennung machte. Oder die der anderen. Es kam selten genug vor, dass sie ihn spüren ließen, dass er mehr als nur geduldeter Beisitzer war. Zugegeben, Luc war deutlich jünger als sie alle und von daher zum Außenseiter prädestiniert. Doch hatte er das Gefühl, dass sein Alter in dieser Gesellschaft weniger galt als sein Verhalten. Und das konnte Luc sehr wohl beeinflussen.
    Wenn nur Marie das genauso sähe , dachte er und sah abermals ihr Bild vor Augen. Diesen verlorenen, irritierten Gesichtsausdruck, mit dem sie auf dem Bürgersteig vor der poste de police gestanden hatte. Luc hatte sich geschworen, heute Abend noch einmal nach ihr zu sehen.
    »Du kommst dir wohl richtig toll vor, oder was?«
    Die Stimme kam von hinter ihm und riss Luc aus seinen Gedanken. Ruckartig drehte er sich um. Ein Mann stand keine drei Schritte entfernt und blickte feindselig zu ihnen hinüber. Er hatte braunes, streng gescheiteltes Haar und einen buschigen Schnurrbart, breite Schultern und ein hartes Gesicht. Ein »Stock«, zweifellos. Einer, der zu konservativ war, um andere Lebensweisen als die eigene akzeptieren zu können. Immer wieder tauchten so welche hier auf und glaubten, die ach so verdorbene Stadtjugend mit einer flammenden Moralpredigt bekehren zu müssen.
    Die Frage hatte Luc gegolten, und der Junge spürte förmlich, wie die Blicke seiner Gefährten auf ihm hafteten, amüsiert und gleichermaßen abwartend. Bewährungsprobe , dachte er, versau das jetzt bloß nicht!
    Möglichst lässig suchte er den Blick des Schnurrbärtigen. »Sonst noch was, alter Mann?«
    »Ha! So redet deinesgleichen also mit Erwachsenen, ja? Das ist die Sorte von Respekt, die so ein asoziales Gesocks uns noch entgegenbringt.« Der Mann hob die Arme, als wolle er der ganzen Welt zeigen, wie unhöflich man ihm hier begegnete. Luc hätte es nicht gewundert, wenn er gleich auch noch Flugblätter der Front National , einer rechtsextremen politischen Partei, gezückt und verteilt hätte. Es hätte zu seinem Geschwalle gepasst.
    »Ganz genau«, sagte Luc ungerührt. »Und jetzt geh mir aus der Sonne, du rechter Schwätzer. Und grüß deinen Freund Le Pen von mir.«
    Die Erwähnung von Jean-Marie Le Pen, dem Gründer der FN , war ein Volltreffer. Ohne ein weiteres Wort machte Schnurrbart auf dem Absatz kehrt und ging. Mit einem unglaublichen Erfolgsgefühl blickte Luc ihm nach, und das zustimmende Gelächter seiner Clique hüllte ihn ein wie eine warme Decke.
    ***
    »Le Pen« saß an einem Tisch vor dem Café Petit Prince, als Luc ihn das nächste Mal sah. Sie hatten die Weinflaschen geleert und zugesehen, wie aus dem Tag ein Abend wurde, und nun spürte Luc einen Druck auf seiner Blase, dem er sich nicht länger entziehen konnte. Wie so oft versuchte er sich daher an dem Spiel, das sie erfunden hatten und das im Grunde daraus bestand, sich auf die Toilette des Petit Prince zu schleichen, ohne rauszufliegen. Die Alternative hieß, gegen die Wand der U-Bahn-Treppe urinieren zu müssen, und da zog Luc das Café doch gerne vor.
    Zumindest bis ihm Le Pen auffiel. Schnurrbart wirkte ganz lässig, deutlich entspannter als noch vorhin. Den Mantel über die Rückenlehne seines Stuhls drapiert saß er da, einen dampfenden Café au lait und die heutige Ausgabe der Tageszeitung vor sich, und lehnte sich mit einem seltsam zufriedenen Gesichtsausdruck zurück, als sich Luc dem Laden näherte. Irrte er sich, oder zwinkerte ihm der Alte sogar noch zu?
    Luc beschloss, ihn zu ignorieren. Ohne einmal zur Seite zu blicken, verschwand der Junge im Café. Mühelos gelang es ihm, sich vom Personal unbemerkt zur Toilette zu schleichen, doch selbst während er dort saß, kam er auf keine Idee, wie er seinen Rückweg möglichst cool wirken lassen konnte. Soweit kam es noch, dass er dem Schnurrbart-Typen einen Grund dafür gab, ihm zuzuzwinkern!
    Luc hatte sich gerade die Hände gewaschen, als die Tür zur Herrentoilette aufflog und Le Pen den Raum betrat. Im Spiegel sah der Junge, wie er sich ihm rasch näherte, ja nahezu rannte. Die Augen des Bärtigen glitzerten, und ein hämisches Lächeln spielte um seine Lippen.
    Der Typ will Ärger , dachte Luc noch halb amüsiert, doch dann wurde ihm bewusst, dass er hier - ohne Etienne und den Rest - wenige Chancen hatte, einen Kampf gegen Le Pen zu
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