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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten
Autoren: Simon Borner
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roten Plastikklotz und stellt ihn auf den Tisch, sodass Luc ihn zwar sehen, aber nicht mehr erreichen kann. Dann den nächsten, und den nächsten… langsam und gleichmäßig. »So ist das nämlich: Erst gehört's dir, und dann auf einmal nicht mehr. Aber es ist nicht weg, nein, nein. Du kannst es immer noch sehen, jeden Tag, aber nur noch aus der Ferne, klar? Nur noch von weitem.«
    Die Unterlippe beginnt zu zittern. Sandrine gönnt sich den vierten Löffel, und endlich geht das Konzert los. Luc legt den Kopf in den Nacken und brüllt frustriert, wie ein Baby eben. Dicke Tränen, die über rosige Bäckchen kullern. Endlich mal.
    »Je m'inventerai reine pour que tu me retiennes«, singt Sandrine gemeinsam mit der Celine aus dem Radio über die Sirene. »Je me ferai nouvelle pour que le feu reprenne.« Ich will mich als Königin neu erfinden, wenn du mich dann festhältst. Ich werde mich neu machen, damit sich dein Feuer neu entfacht. Gerard. Sie greift sich ein weiteres Klötzchen. Dann…
    Der Schmerz kommt von innen heraus, aus ihrem Körper, ihrem Brustkorb. Ganz plötzlich ist er da, stechend und kalt. Sandrine schüttelt den Kopf, um den Eindruck loszuwerden. Vergebens. Sie reckt sich ein wenig, dehnt die Nackenmuskulatur, doch dann verschwimmt die Küche vor ihren Augen. Konturen werden unscharf, Schattierungen verblassen. So ist es, wenn man blind wird , schießt es Sandrine durch den Kopf, und mit einem Mal ist die Panik da. Sandrine will aufstehen und zum Telefon eilen, will schreien, will ATMEN, verdammt!
    Doch nichts davon gelingt ihr.
    Mit zittrigen Händen greift sie sich an den Hals. Atme, atme. Als wolle sie die Luft mit Gesten hineinzwingen, rein in ihre Lunge, ihre schmerzende Lunge, die wie Feuer brennt. Kühle Luft, frisch. Aber nichts geschieht. Sandrines Mund öffnet und schließt sich längst ohne ihr Zutun. Alles, was sie noch kann, ist halb Reflex und halb Fluchtinstinkt, und eines so unsinnig wie das andere. Dann kippt sie zur Seite.
    Die Welt ist nicht mehr als eine graue Masse aus Schemen vor ihren Augen, die stetig dunkler wird. Blut rauscht in ihren Ohren; ein wilder Herzschlag, der pumpt und pumpt, ohne noch etwas zu bewegen. Apfelbrei fließt über ihre Hose. Celine singt im Hintergrund, irgendwo. Und dann hört Sandrine das Lachen.
    Glucksend zunächst, doch jeder Laut intensiviert den folgenden. Was zuerst wie Babylachen klingt, wird mehr. Wird reifer, dunkler, wissender.
    Er ist das! Die Erkenntnis ist so logisch wie irreal. Luc! Luc bringt mich um!
    Der kleine Scheißer - Ist er das überhaupt? Kann jemand, der so ein Lachen hervorbringt, ein normaler Einjähriger sein? - quietscht vor Vergnügen, und es klingt wie Fingernägel auf einer Grüntafel. Sandrine spürt, wie sie in ein tiefes Loch fällt, und ihr Verstand klammert sich fieberhaft an Celines Stimme hinter all dem Chaos, an den einen Funken Realität in diesem Horror. Sie will nicht, dass die letzten Dinge, die sie auf dieser Welt wahrnehmen soll, das hämische Lachen eines kleinen Teufels in ihren Ohren und nasse Apfelpampe auf ihrem Bein sind. Sie will nicht fallen.
    Dann geht die Haustür, irgendwo. Und mit einem Mal ist der Schmerz weg.
    Zischend und keuchend zieht Sandrine Sauerstoff ein, köstlichen Sauerstoff. Das Dunkel verschwindet, und die Welt vor ihren Augen nimmt wieder Formen an.
    »Wir sind wieder da«, ruft Madame Curdin, die Sandrine schon zweimal gebeten hat, sie Julie zu nennen, aus der Ferne, und ohne dass sie selbst sagen kann, woher sie die Kraft dafür nimmt, richtet sich Sandrine auf. Mit dem Handrücken wischt sie den Brei vom Fußboden. Dann steht sie auf und geht, nein: rennt förmlich raus aus der Küche und zur Haustür. Nichts wie weg hier, nichts wie raus.
    Noch einmal dreht sie sich um. Luc Curdin sitzt noch immer auf dem Fußboden. Die Plastikklötze stehen fein säuberlich vor ihm auf der Decke, allesamt. Und in seinen Augen liegt ein Feuer, das aus den tiefsten Tiefen der Hölle zu stammen scheint.
    ***
    Lyon, Gegenwart
    Schon bevor er die Tür der Wohnung hinter sich schloss, konnte Luc den obligatorischen Seufzer hören. Maman , in der Küche. Wie immer. Und mit einem Mal fragte er sich, warum er überhaupt noch herkam. Warum machte er sich den Stress noch? Wegen der Wäsche? Etienne hatte auch niemanden, der das für ihn erledigte, und er brauchte auch keinen. Wegen des warmen Betts und des Daches über dem Kopf, wenn es mal regnete oder fror? Etienne lebte seit Jahren auf der Straße
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