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0907 - Imperium der Zeit

0907 - Imperium der Zeit

Titel: 0907 - Imperium der Zeit
Autoren: Simon Borner
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nur gerecht für so ein Musterschaf wie dieses.
    »… dass er auf sie wartet, bis auch Ihre Zeit gekommen ist«, brachte er den Satz zu Ende, der ihm auf den Lippen gelegen hatte, und im gleichen Moment hörte er seinen Lohn: Jenes unbezahlbare Raunen im Publikum - ein halb schockiertes, halb erleichtertes Ausatmen -, das ihm bestätigte, dass er sie erreicht, sie beeindruckt hatte. Määäh , dachte er und freute sich innerlich. Wieder ein Abend fürs mentale Fotoalbum.
    Thomas löste sich von der Dicken, die noch immer auf dem Stuhl auf der anderen Seite seines Tisches saß und dicke Tränen der Sehnsucht in ihren beigen Schal vergoss, und wandte sich wieder direkt an die Kamera, die Günni, sein erfahrener Kameramann schon vorauseilend in die richtige Position gebracht hatte.
    »Das…«, begann er seine traditionelle Abmoderation und legte noch eine gespielte Erschöpfungspause ein, »war Thomas Scheuerer für heute Abend. Schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn ich versuche, Kontakt zu der Welt nach der unseren aufzubauen. Zum Reich der Geister und Dämonen, ich, der Meister des Übersinnli…«
    Thomas stockte. Wie selbstverständlich war sein Blick über die Zuschauerreihen geglitten, über die Dummen und die Doofen, die tatsächlich noch Geld dafür bezahlten, seiner Scharlatanerie vor Ort beiwohnen zu dürfen, doch plötzlich…
    Das gibt's doch nicht , dachte er mit einem Mal wütend, und sah ungläubig zu dem Mann hinauf, der hinter der letzten Reihe stand, und der ihm vorher noch gar nicht aufgefallen war. Wer lässt denn hier Karnevalsidioten rein?
    Der Mann trug das Kostüm eines römischen Legionärs, komplett mit Helm und Tunika, und sah aus, als sei er soeben einem Sandalenfilm oder Asterix-Heft entsprungen. Ja, in der rechten Hand hielt er sogar einen Speer! Unfassbar, dass Thomas ihn erst jetzt bemerkte und sich offenbar niemand sonst an ihm störte. Was zum Geier…
    »… Übersinnlichen«, beendete er seine Moderation nach kurzer Pause. »Bleiben Sie mir gewogen, da draußen. Und bewahren Sie sich Ihren offenen Geist.« Einzig der verschwörerische Blick in die Kamera, mit dem er sich sonst immer verabschiedete, wollte ihm heute nicht einfallen. Dafür hingen seine Augen zu sehr an diesem Kostümierten da oben.
    An dem rätselhaften Mann, der sich just in diesem Moment - und vor den schreckgeweiteten Augen des ungläubigen Thomas - buchstäblich in Luft auflöste!
    ***
    Die Fleischstraße war menschenleer, als Scheuerer in dieser Nacht nach Hause ging. Es war spät geworden, viel später als an den anderen Abenden, an denen er seine TV-Sendung produzierte. Das lag an den fünf Schnäpsen, die er sich in der besseren Vorratskammer, die man ihm beim Offenen Kanal als Garderobe zur Verfügung stellte, noch gegönnt hatte. Als Nervennahrung. Fünf Schnäpse - und normalerweise trank Thomas nie -, doch noch immer wollte dieses Bild des sich in weißen Nebel auflösenden Mannes im Römerkostüm nicht aus seinem Kopf verschwinden.
    Er konnte es sich nicht erklären. War er einem seltsamen Scherz aufgesessen, einem Streich, den ihm sein Team aus Stümpern und Schnarchnasen gespielt hatte? Die zerrissen sich hinter vorgehaltener Hand ohnehin die dreckigen Mäuler über ihn. Wollten Sie ihn auf diese Art verhöhnen, sich über seinen Bauernfänger-Showact als Medium und Geisterbeschwörer lustig machen? Es wäre möglich, sogar plausibel.
    Nein. Dafür war es zu gut gewesen, zu… ja, zu originell . Das ganze Schauspiel hatte zu echt gewirkt, als dass dieser lahme Haufen es hätte auf die Beine stellen können. Himmel, wie sollten Menschen, die eine Nahaufnahme noch nicht einmal dann hinbekamen, wenn man ihnen die richtigen Tasten und Regler an der Kamera mit kleinen Aufklebern beschriftete, einen solchen Spezialeffekt verwirklichen können? Der Römer hatte sich aufgelöst, vor seinen Augen! Hinter der letzten Reihe des Studiopublikums. Wie ein Trugbild oder eine Fata Morgana.
    Scheuerer schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. Es gelang ihm nicht.
    Die Nacht war kalt geworden, viel kälter als in den letzten Tagen. Ein eisiger Wind strich um die in dunklem Schlummer liegenden Häuser der Trierer Innenstadt, wehte über den verlassenen Hauptmarkt und die kleine Straße zum Dom hinauf. Hinter den Schaufenstern der Einkaufstempel, Boutiquen und Cafés war es finster, nichts bewegte sich mehr. Von plötzlichem Schauder erfasst, schlug Thomas den Kragen seines langen schwarzen
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