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0907 - Imperium der Zeit

0907 - Imperium der Zeit

Titel: 0907 - Imperium der Zeit
Autoren: Simon Borner
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er hier? War er etwa ohnmächtig geworden?
    Johann stand auf und setzte sich auf die Bank, welche hinter ihm stand und die er so mochte, weil man von ihr einen so schönen Blick aufs Moseltal hatte. Er musste nachdenken, denn er hatte absolut keine Ahnung, wie er hier hingekommen war.
    Oh, das Wie war offensichtlich. Der Motor seines alten, dunkelroten Mercedes, welcher einige Meter hinter ihm auf der ungeteerten Straße stand, die zu diesem kleinen Ruheort inmitten des Weinbergs führte, lief ja noch. Die Fahrertür stand offen, das Radio plärrte fröhlich - alles war, als sei Johann gerade erst ausgestiegen.
    Doch die leuchtenden Scheinwerfer deuteten etwas ganz anderes an. Sie sagten, dass Winzer Bechtel schon in der vergangenen Nacht angekommen war. Und seitdem… was? Hier gelegen hatte? Kein angenehmer Gedanke.
    War das etwa eine beginnende Demenz? Fühlte es sich so an, wenn es losging? Johann war siebzig und fürchtete sich schon lange davor, dieser oder einer anderen »Alterskrankheit« zum Opfer zu fallen. Er war immer ein Mann der Tat gewesen, ein Mann mit Zielen und Visionen. So hatte er gelebt, und so wollte er auch bleiben.
    Ratlos blickte er zu Boden und sah die Römersteine, drei vielleicht fünfzig Zentimeter durchmessende Steinblöcke, die im Erdreich unter der Bank steckten und die ihm - der keine Ahnung hatte, ob dies den Tatsachen entsprach - immer wie Relikte aus den Tagen vorgekommen waren, in denen die Region noch römisch gewesen war. Johann mochte die Steine, sie passten zu diesem Ort, an den er immer fuhr, wenn er nachdenken wollte und Ruhe brauchte. Sie waren alt und irgendwie weise. Sie hatten viel gesehen und verstanden es, trotzdem zu schweigen. Sie und er, so dachte Bechtel gern, hatten einiges gemeinsam.
    ROT!
    Das Bild war auf einmal da, völlig unvorbereitet und ohne Zusammenhang tauchte es vor seinem geistigen Auge auf, wie eine verdrängte Erinnerung, die langsam zurückkehrte. Johann sah eine Art verzerrte Momentaufnahme, die ihm sein Geist, angestachelt von irgendeinem Reiz, plötzlich präsentierte. Sie zeigte ihm den nächtlichen Weinberg, vom Vollmond beschienen, der durch die Äste des kahlen, morschen Apfelbaumes einige Meter weiter westlich fiel, den zu fällen Johann nie übers Herz gebracht hatte. Und sie zeigte die Steine, seine Römersteine, die mit einem Mal glühten, wie die Feuer der Hölle selbst.
    Ein unheimliches rotes Leuchten, ein pulsierendes Licht, dessen bloßer Anblick schon genügen mochte, einem die Augen in den Höhlen zu verbrennen. Johann wusste nicht, wo die Erinnerung herkam, doch er spürte ihre Echtheit. Er spürte, dass das, was er da sah, tatsächlich geschehen war. Ihm geschehen war, in der vergangenen Nacht.
    Und wie damals, glaubte er auch jetzt wieder den lieblichen Lockruf zu hören, der von den glühenden Steinen auszugehen schien und direkt in sein Hirn, direkt in seinen Verstand gedrungen war.
    Sein Mund bewegte sich ohne sein Zutun, als Johann, den Rücken gegen die Holzbank gelehnt und das mit einem Mal ausdruckslose Gesicht der wärmenden Sonne entgegengestreckt, erneut die Worte flüsterte, welche er in der Nacht vernommen hatte.
    ***
    Johann schrie vor Schreck auf, als das entfernte Krächzen eines Raben ihn in die Wirklichkeit zurückholte. Zurück in die Gegenwart und den Sonnenschein, der noch immer auf den Weinberg hinabfiel und die bösen Erinnerungen vertrieb.
    Erinnerungen, die ihn ängstigten und die er nicht verstand. Fast so, als gehörten sie zu jemand anderem und seien fälschlich in seinem, in Johanns Geist abgelegt worden. Der alte Winzer zitterte am ganzen Leib und war mit einem Mal froh, hier oben allein zu sein. Diesen Moment der völligen Schwäche hätte er sich vor anderen niemals erlauben dürfen. Vor…
    Die Erkenntnis traf ihn mit einer Wucht, als habe man ihm aus nächster Nähe in den Magen geboxt: Er war nicht mehr allein!
    Johann wusste nicht zu sagen, woher das Gefühl rührte, doch er spürte es mit jeder Faser seines Körpers. Irgendjemand war hier oben. Irgendjemand war bei ihm, beobachtete ihn aus den dicht bewachsenen Reihen der Rebstöcke heraus so, wie ein Raubtier sich seine zukünftige Beute betrachtete. Jemand, der nur darauf wartete, dass Johann Schwäche zeigte. Jemand Böses.
    Der Atem des Winzers ging schwer. Schweißperlen traten auf seine Stirn, und als er den Kopf drehte, um sich möglichst unauffällig umzublicken, fühlte er sich wie ein kleiner Junge, den man in der Fremde
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