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082 - Die weisse Frau

082 - Die weisse Frau

Titel: 082 - Die weisse Frau
Autoren: Frank Sky
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der Schulleiterin zu und stieg die Treppe hinauf.
     

     
    In ihrem Zimmer legte sie sich aufs Bett. Auch ihr wäre wohler gewesen, wenn schon alles überstanden gewesen wäre, obgleich sie sich vor der weißen Frau nun nicht mehr fürchtete. Sie tat ihr eher leid. Unheimlich war ihr jedoch nach wie vor die geheimnisvolle Gestalt des Henkers. Noch war viel zu wenig über ihn bekannt. Was konnte man gegen ihn tun? Wie stand er zu der weißen Frau, zu ihrem heutigen Erscheinungsbild?
    Ihr Blick fiel auf die graue Puppe unter dem Fenster. Sie lag im Schatten. Ihre Glieder schienen zu leben, aber das täuschte sicher. Anne wußte, daß es nicht so sein konnte. Angestrengt beobachtete sie das Stoffgebilde. Müdigkeit überfiel sie schließlich. Sie schloß die Augen und schlief ein, aber schon bald wachte sie wieder auf, weil es so kalt in ihrem Zimmer war. Sie wollte sich zudecken, aber dann begriff sie und fuhr erschrocken auf.
    Die weiße Frau befand sich bei ihr im Zimmer. Sie stand vor der Tür und preßte die knochigen Hände an den Kopf.
    „Mein Kind?“ fragte sie wispernd. „Wo ist mein Kind?“
    Einige Sekunden hatte Anne das Gefühl, sie würde von einer unsichtbaren Kraft ans Bett gefesselt. Sie konnte sich nicht bewegen und kämpfte gegen ihre Angst an. Dabei erinnerte sie sich daran, was sie heute nachmittag im Lehrerzimmer gehört hatte. Wenn man den Spuk wirklich für alle Zeiten vertreiben wollte, dann mußte man Ulrike helfen.
    Sie richtete sich auf. Die weiße Frau kam näher. Anne glitt geschmeidig an ihr vorbei zum Fenster hinüber, ergriff die Puppe und hielt sie hoch.
    „Ich habe deine Puppe“, sagte sie.
    Sie zuckte zusammen, als die eisigen Knochenhände ihr die Puppe aus der Hand rissen.
    Die weiße Frau strahlte ein phosphoreszierendes Licht aus. Sie stand dicht vor der Lehrerin.
    „Ich will dir helfen, Ulrike“, sagte Anne.
    Ihr schien, als könnte die weiße Frau sie nicht nur hören, sondern auch verstehen. Sie versuchte, die Gestalt mit ihren Augen zu durchdringen, und ihr war, als ob sie die Tür durch sie hindurch sehen könnte. Zugleich wußte sie aber, daß die weiße Frau körperlich war; daran gab es keinen Zweifel, denn sie hatte ihr die Puppe mit überraschender Heftigkeit aus den Händen gerissen.
    Die weiße Frau lachte leise und verbittert.
    „Mir kann niemand helfen“, sagte sie.
    Anne wußte, daß die Gelegenheit da war, auf die sie gewartet hatte. Sollte sie bis zur Seance in ein paar Stunden warten? Dann war es vielleicht schon zu spät. Sie durfte die weiße Frau nicht verschwinden lassen. Kurzfristig überlegte sie, ob sie die anderen Lehrer und vor allem Anton Grünwald informieren sollte, aber dann wurde sie sich darüber klar, daß sie das gar nicht konnte. Wenn sie zur Tür ging und beispielsweise Dr. Schwab rief – was sie gern getan hätte – dann würde Ulrike sich bestimmt in nichts auflösen. Nein – dies war eine Chance, wie sie vielleicht nicht wiederkam.
    „Doch. Ich kann und will dir helfen“, sagte Anne.
    Die weiße Frau streckte eine Hand aus. Die eisigen Fingerspitzen berührten die Wange der Lehrerin, strichen über ihre Stirn und tasteten sich über die Nase bis zum Mund herunter. Ulrike benahm sich wie eine Blinde, die herauszubekommen versucht, wie ihr Gegenüber aussieht.
    „Ich will dir helfen, Ulrike“, wiederholte die Lehrerin. „Du mußt mir zeigen, wo Leopold, dein Geliebter, dich einmauern mußte.“
    „Leopold – mein Geliebter“, murmelte die weiße Frau. „Leopold – der Henker. Er mußte es tun. Er konnte nicht anders – nicht wahr? Oder hat er mich verraten?“
    „Man hat ihn gezwungen. Er mußte es tun.“
    Anne Bloom wagte nicht, Ulrike zu drängen. Sie fürchtete sich davor, daß die Sinne der weißen Frau sich wieder verwirren könnten. Dann wäre zunächst alles verloren gewesen.
    „Willst du mir nicht zeigen, wo du eingemauert worden bist?“ fragte die Lehrerin. „Bitte, Ulrike! Ich will dir helfen. Es ist wirklich wichtig.“
    Unten fuhr ein Auto über den knirschenden Kies. Das Sonnenlicht brach sich an der Windschutzscheibe, und ein heller Sonnenstrahl traf das Gesicht der weißen Frau. Anne Bloom sah einen Knochenschädel mit tiefschwarzen Augenhöhlen und zwei grinsenden Zahnreihen. Der Angstschweiß brach ihr aus. Sie wurde schwankend und begann zu fürchten, daß sie es allein nicht durchstehen würde.
    Ein oder zwei Minuten vergingen; sie konnte die Zeit nicht abschätzen.
    „Komm!“ sagte die weiße
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