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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht
Autoren: Karl May
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mich nicht nach einem Dichter, sondern nach einer Dichterin zu nennen. Man hing mir den Namen Sappho an, und als ich mich sträubte, dies zu dulden, bewies man mir, daß es keinen bezeichnenderen geben könne, weil Sappho die berühmteste Dichterin des Altertums und durch die unübertreffliche Reinheit und Schönheit ihrer Verse ausgezeichnet sei. Was konnte ich nun tun? Ich mußte mich fügen!
    Wenn Carpio sagte, daß ich während unserer Reise jetzt zum erstenmal wie ein Buch gesprochen habe, so hatte er wohl recht. Damit er sich auf unserer Wanderung wohlbefinden solle, gab ich mich ganz so, wie er war; ihm war das nur nicht aufgefallen, weil er keine Spur von Beobachtungsgabe besaß. Der mir liebe, immer ernste und stets fleißige Freund besaß einige Eigenschaften, welche leicht seine ganze Zukunft in Frage stellen konnten. Er war zunächst von einer geradezu kindlichen oder gar kindischen Harmlosigkeit, die keine Tatkraft aufkommen läßt und alles womöglich beim Schwanz anstatt beim Kopfe anfaßte. Dabei liebte er es, der einfachsten Sache eine größere Bedeutung, als sie besaß, beizulegen und besonders auf unsern Wanderungen dem nüchternsten Gegenstand oder Vorkommnis eine romantische Färbung zu erteilen. Daher der Eissporn, das Sicherheitsschloß, das Brennglas und andere Gegenstände, welche er mitgenommen hatte.
    Eine andere und zwar seine hervorragendste Eigentümlichkeit war eine Zerstreutheit, welcher man bei seinem jetzigen Alter zwar nur die heitere Seite abzugewinnen brauchte, die aber doch schon versprach, später für ihn verhängnisvoll zu werden. Ich hatte mir, soviel es mir möglich war, Mühe gegeben, ihn zur Sammlung anzuspornen, aber leider auch nicht den kleinsten Erfolg gehabt. Im Gegenteile, wenn er auf seine Zerfahrenheit aufmerksam gemacht wurde, steigerte sie sich nur; er wurde ängstlich und beging in dieser seiner Befangenheit noch viel größere Fehler als vorher. Ich gab es also auf, ihn zu ändern; suchte seine Eulenspiegelstreiche soviel wie möglich zu vertuschen und gab mich, wenn ich mit ihm allein war, ebenso kindisch unbeholfen wie er selber. Dadurch hatte ich ihn wahrscheinlich noch fester als früher an mich gekettet. Wir schienen zwei unbedachtsame Kinder zu sein; er war auch eins; ich aber wachte heimlich über ihn und hielt, indem ich mir den Anschein gab ganz in seinem Willen aufzugehen, alle Unannehmlichkeiten möglichst fern von ihm. Er glaubte, selbständig zu handeln; in Wirklichkeit aber war ich es, nach dem er sich richtete, ohne es zu wissen.
    Zuweilen aber tauchte doch eine Ahnung in ihm auf, daß ich der Bestimmende und er der Geleitete sei. So auch jetzt, wo ich meine Meinung über den Wirt Franzi äußerte, ohne ihn gesehen zu haben. Ich fügte hinzu:
    „Weißt du, Carpio, wenn jemand nicht bei seinem Familien- sondern bei seinem Vornamen genannt und dieser letztere sogar in der Koseform, nicht Franz sondern Franzi gebraucht wird, so ist mit Sicherheit anzunehmen, daß er ein sogenannter guter Kerl ist. So stelle ich mir den Wirt vor, und als einen solchen guten Kerl müssen wir ihn behandeln, ihm dabei aber auch ein bißchen imponieren.“
    „Imponieren? Womit? Lateinisch oder griechisch reden?“
    „Nein; das würde ihn abstoßen, weil er es wahrscheinlich nicht versteht. Er scheint ein Lebemann zu sein; da müssen wir, wie man sagt, jovial auftreten, so tun, als ob wir seinesgleichen und schon längst mit ihm bekannt seien. Und was das Imponieren betrifft, so – – – ah, da denke ich an das, was mir der ‚Alte‘ sagte, nämlich, daß es mir keine Mühe macht, stundenlang in Reimen zu reden. Du bist ja auch nicht auf den Kopf gefallen und hast mir schon öfters mit ganz passablen Knüppelversen geantwortet. Wollen wir diesen Franzi mit Reimen anulken?“
    „Der Gedanke ist nicht schlecht; ich werde mein möglichstes tun. Aber wenn er es sich nun nicht gefallen läßt?“
    „Da halten wir inne und werden rasch vernünftig. Also los! Wir scheinen hier am Ziele zu sein.“
    Der Gendarm hatte uns durch einige Gassen geführt und lenkte nun zu einem Einkehrhause, zu dessen Tür einige Stufen emporführten. Das Gebäude machte mit der Umgebung, die zu ihm gehörte, einen stattlichen Eindruck. Wir schritten die Stufen hinan und kamen in einen nach Stallduft riechenden Flur, wo der Polizist eine Tür öffnete, einen forschenden Blick in die Gaststube warf und dann heiteren Tones rief:
    „Grüß Gott, Franzi! Da bin ich schon wieder und bring
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