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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht
Autoren: Karl May
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bezeichnete. Wenn ich mich nicht irre, waren es Virginias, die man zuweilen auch mit dem hochpoetischen Namen ‚Giftnudeln‘ zu bezeichnen pflegte. Als Carpio die seinige anbrannte und den lächelnden Ausdruck bemerkte, machte er eine hoheitsvolle Handbewegung und sagte in geringschätzigem Tone:
    „Ich will Ihren Kaiserstaaten gewiß nicht zu nahe treten, aber was Zigarren betrifft, so sind wir ihnen in jeder Beziehung über. Diese hier zum Beispiel, welche von vorzüglicher Qualität sein soll, würde mir für den täglichen Gebrauch viel zu schwach sein. Es gibt bei uns eben ganz andere Raucher als hier bei Ihnen, meine Herren!“
    Leider aber ließ er seine ‚Nudel‘ so oft ausgehen, daß er mit den Zündhölzern immer zwischen ihr und dem Asbestgläschen unterwegs war – es stand nämlich ein sogenanntes Tunkfeuerzeug auf dem Tische. Da ihm dabei der Geruch des Schwefels so oft in die Nase fuhr, zog er, ohne daß ich weiter darauf achtete, ein Papier aus der Tasche, zerriß es in lange, schmale Streifen, um Fidibus aus ihnen zu machen, und holte sich nun mit deren Hilfe das zum Anbrennen nötige Feuer von der in seiner Nähe qualmenden Öllampe. Damals gab es bekanntlich weder Gas- noch gar elektrisches Licht.
    Trotz dieser immerwährenden Unterbrechungen war er, als ich die erste Zigarre geraucht hatte, schon mit seiner zweiten fertig. Man bot uns neue an, und als ich da für uns beide ablehnte, schlug Carpio diese Anmaßung in empörtem Tone zurück:
    „Mische dich nicht in meine Angelegenheiten, Sappho! Eine Mondscheinnatur, wie die deinige ist, kann freilich nichts vertragen; ich aber bin aus Stahl und Stein gebaut und möchte die Zigarre kennenlernen, die meine Konstitution erschüttern könnte!“
    „So ist es recht!“ stimmte Franzi bei. „Ein guter Student muß ausgepicht und gegen Nikotin und Spiritus unempfindlich sein. Nummus ubi loquitur, tullius ipse tacet . Nehmen Sie also immer noch eine!“
    Und der Busenfreund nahm noch eine und hatte sie noch nicht aufgeraucht, als seine Fidibus zu Ende waren. Ich sah, daß er, wie eine Orientale sich ausgedrückt hätte, die Morgenröte seines Angesichts verlor, sagte aber nichts, weil ich ihn nicht beleidigen wollte.
    Dann brachte die Wirtin das Abendessen herein. Es bestand in einer mächtigen Schüssel Fisolen und einer ebenso großen Schüssel geräuchertem Schweinefleisch. Beim Anblick der großen, appetitlichen Fleischstücke lief mir, wie es später dem persischen Schah in London ergangen sein soll, das ‚allerhöchste Wasser seiner Majestät‘ im Munde zusammen; den Busenfreund aber schien die Lukullität dieses Nachtmahls kalt zu lassen; wenigstens lag, während meine Augen höchstwahrscheinlich vor Freude leuchteten, in den seinen ein entsagungsvoll nach innen gerichteter Blick und in seinen wehmutsvoll zusammengezogenen Mundwinkeln der Ausdruck jener schmerzlichen Resignation, mit welcher ein sonst sehr vernünftiger Bettler einst behauptet haben soll, daß es ihm niemals einfallen werde, einen Hunderttalerschein anzunehmen.
    Wenn man bedenkt, daß zu diesen Fisolen und zu diesem Fleische nicht Bier, sondern Wein getrunken wurde, so wird man mir glauben, daß ich mich nicht allzusehr nötigen ließ. Mein guter Carpio aber wollte, wie Franzi sich auszudrücken beliebte, ‚gar nicht anbeißen‘ und erklärte schließlich, als er sich durch teilnahmsvolle Fragen und Zusprüche in die Enge getrieben sah, daß er leider heute Mittag zuviel gespeist und infolgedessen jetzt noch gar keinen Appetit habe. Dabei richtete er sein Auge mit der stummen Bitte um Verschwiegenheit auf mich; ich gewährte sie ihm im stillen, wurde aber dafür von ihm mit dem krassesten Undank belohnt, denn als man ihn darauf aufmerksam machte, daß doch ich nicht so ganz appetitlos sei, antwortete er wie aus einer Wolke der Erhabenheit herab:
    „Es sind nicht alle Menschen gleichbesaitet. Während der eine den Genüssen des Geistes und des Gemütes den Vorzug gibt, liebt es der andere, in materiellen Dingen zu schwelgen und schreckt am Ende sogar nicht davor zurück, seine Seele in Fisolen und Selchfleisch zu versenken. Weiter brauche ich wohl nichts zu sagen; Sie wissen ja: de gustibus non est disputandum, wie der Lateiner sagt.“
    „Ja. Ja“, nickte der Wirt, erfreut über die Gelegenheit, wieder einen Beweis seines Wissens geben zu können. „Es freut mich natürlich riesig, daß es ihrem Kollegen so vortrefflich schmeckt, doch weiß auch ich die Vorzüge des
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