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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht
Autoren: Karl May
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Geistes zu schätzen und sage mit den Gelehrten des Altertums: Omne nimium nocet.“
    O Franzi, Franzi, wüßtest du, was du mir soeben gesagt hast! So dachte ich, aß natürlich aber trotzdem ruhig weiter, denn ich hatte mich nun einmal so tief in das Materielle versenkt, daß man mir eine schnelle Umkehr aus dieser geistigen Verfisolung nicht zutrauen durfte. All mein psychisches Können und Wollen war, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, in diesem Augenblicke schon so verlottert, daß ich, wenn ich überhaupt beim Essen etwas sagte, schon längst nicht mehr in Reimen sprach, kann aber zu meiner Ehrenrettung den sehr moralischen Grund hinzufügen, daß ich den Wert des delikaten Geselchten weder durch trockene Jamben und Trochäen noch durch ungeräucherte Amphibrachen und Daktylen unvorteilhaft beeinflussen wollte.
    Die Stube war bis zum Essen voller Gäste gewesen; nun ich mich aber mit solcher Schweigsamkeit den beiden Schüsseln widmete und mein Busenfreund ebenso still in sein geistiges oder, was wahrscheinlicher war, in sein körperliches Innere hinunterstieg, stockte die Unterhaltung, und der Fleiß, mit welchem wir in diesen Richtungen tätig waren, legte die Vermutung, daß wir so bald nicht wieder genießbar sein würden, in einer Weise nahe, daß sich einer nach dem andern entfernte, um zuhause dasselbe zu tun, was wir hier taten, nämlich essen.
    So kam es, daß wir noch vor Beendigung des Abendmahles mit den Wirtsleuten allein waren, doch nicht lange, denn es stellten sich neue Gäste ein, welche mein Interesse sofort in vollstem Maße in Anspruch nahmen.
    Es war ein alter Mann mit einer jüngeren Frau und einem vielleicht dreizehn Jahre alten Knaben. Sie mußten arm, sehr arm sein, wie ihre Kleidung bewies, welche keinen Schutz gegen die Kälte des Winters bieten konnte. Der weißhaarige, tief gebückte Alte kam mit wankenden Schritten herein und ließ sich vor Ermüdung gleich auf den nächsten Stuhl niederfallen. Da schloß er, ohne uns zu beachten, die tiefliegenden Augen und holte in einer Weise laut und rasselnd Atem, daß ich glaubte, er müsse vollends zusammenbrechen. Der Knabe legte liebevoll und besorgt den Arm um seine Schulter und streichelte ihm mit der andern Hand die zum Erschrecken hagere Wange. Beide hatten, der eine vor Ermüdung und der andere aus kindlicher Unkenntnis, keinen Gruß gesagt. Die Frau aber grüßte, legte das Bündel, welches sie trug, neben dem Alten nieder, faltete die Hände und fragte in flehendem Tone:
    „Haben Sie vielleicht einen Platz für uns im Stalle?“
    „Bettelvolk, das sich verstellt und nichts tun als vielleicht nur stehlen will“, flüsterte die Wirtin ihrem Manne zu.
    Sie war nicht so gutmütig wie er, der gar nicht auf diese Worte hörte, sondern die drei Personen mit mitleidigen Augen betrachtete und sich dann erkundigte:
    „Warum im Stalle und nicht im Bett?“
    „Weil wir nicht bezahlen können“, antwortete die Fremde mit einem schweren Seufzer.
    „Warum kommt ihr da zu uns? Hier ist keine Herberge für Handwerksburschen und Leute, wie ihr seid!“ fiel die Wirtin schnell ein.
    „Wir haben nach der Herberge gefragt, aber wir konnten nicht weiter; mein Vater fiel vor Müdigkeit um.“
    Die Wirtin wollte noch etwas sagen, aber Franzi winkte ihr mit der Hand, zu schweigen, und forderte die Fremde auf, ihm die Legitimation zu zeigen. Sie zog einen sorgfältig in ein Tuch gewickelten Paß hervor, den sie dem Wirte gab. Er las ihn, schüttelte den Kopf, musterte die drei Personen noch einmal und sagte dann im Tone des Erstaunens:
    „So weit kommt ihr her – in diesem Schnee und dieser Kälte! Und nach Amerika wollt ihr – nach Amerika, in diesen Kleidern und ohne Geld! Entweder ist das eine Lüge, oder seid ihr nicht bei Troste!“
    „Es ist keine Lüge“, versicherte sie; „der Paß beweist es ja.“
    „Aber wer nach Amerika will, muß Geld haben! Die Fahrt auf dem Schiffe hat kein Mensch umsonst!“
    „Mein Mann hat uns die Schiffskarten geschickt.“
    „Ihr Mann? Ist der schon drüben?“
    „Ja. Er ist vor drei Jahren hinüber und hat gearbeitet und gespart, bis er uns die Schiffskarten schicken konnte.“
    „Nur die Karten? Man braucht doch auch Geld, um bis nach der Hafenstadt zu kommen!“
    „Das hatten wir, denn wir haben alles, was wir besaßen, verkauft. Viel war es freilich nicht, denn wir sind arme Leute, und die Käufer waren ebenso arm wie wir; aber bis nach Bremen hätte es gereicht, wenn mein Vater nicht krank
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