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06 - Prophet der Apokalypse

06 - Prophet der Apokalypse

Titel: 06 - Prophet der Apokalypse
Autoren: Michael J. Parrish
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Früchte und Wasser wurden ihm gebracht, dazu eine Schale mit einer unbekannten breiigen Masse, die die alte Frau, die ihn damit versorgte, mit kehligen Lauten anpries, die wie »Popoi! Popoi!« klangen.
    Sayil rechnete in der Folgezeit jeden Tag damit, dass er geholt und unter Qualen zu Tode gebracht würde. Stattdessen erschienen immer wieder Stammesangehörige, die seine Tätowierungen bewunderten und ihn in ihrer Sprache Sachen fragten, die er nicht verstand und deshalb auch nicht beantworten konnte. Und selbst das, was er erriet, konnte er ihnen zwar sagen, aber das verstanden wiederum sie nicht.
    Der Wert einer gemeinsamen Sprache wurde Sayil zum ersten Mal in vollem Umfang bewusst.
    Und so fing er an zu lernen. Und verblüffte seine Aufpasser.
    Offenbar spornte er sie dazu an, ihm ihrerseits immer mehr Begriffe beizubringen, und sie lachten und klatschten in die Hände, wenn er sie in der Manier begrüßte oder verabschiedete, wie sie es gewohnt waren.
    Eines Tages kam der Häuptling zu ihm, als wollte er sich persönlich von dem überzeugen, was seine Stammesangehörigen ihm über den Gefangenen mitgeteilt hatten. Und er brachte ein Geschenk mit – die kleine Steineule seines Vaters, das Totem seiner Familie. Sayil hatte sie schon schmerzhaft vermisst; er musste sie verloren haben, als er gefangen genommen worden war. Nun kehrte sie zu ihm zurück.
    Radebrechend verständigte sich Sayil auch mit dem Häuptling, der sich Ua Hiva nannte – damit war das Eis gebrochen. Nur wenige Tage später erklärte er ihn zum freien Mann, der fortan oft mit ihm am Feuer saß. Sayil lernte die Sprache der Einheimischen bis zur Perfektion, und da er sie für Kinder der Götter hielt wie die Maya auch, vertraute er dem Häuptling eines Tages sogar den Grund an, der ihn nach Te Fenua Enata – wie Ua Hivas Stamm das Inselreich nannte – geführt hatte.
    Ua Hiva gab sich beeindruckt – und bat Sayil, ihm die Stele zu zeigen.
    Tatsächlich führte Sayil den Häuptling – nur ihn allein – an den Ort, der den Göttern geweiht worden war.
    Nach diesem Tag und dem Vertrauensbeweis wuchs Sayil im Ansehen des Häuptlings. Und diese Achtung übertrug sich auf sämtliche Angehörige des Stammes. Noch vor Jahresfrist nahm Sayil eine der Töchter Ua Hivas zur Frau, und sie schenkte ihm das erste von insgesamt acht Kindern, drei Mädchen und fünf Knaben. Jedem von ihnen töpferte und brannte er eine kleine Eule und setzte ihr funkelnde Kristalle als Augen ein.
    Die Familie erhielt von Ua Hiva einen speziellen Status, der sie unantastbar auch für alle folgenden Generationen machen sollte. Und Sayil weihte seine Nachkommen in die hohe Aufgabe ein, die Stele vor allen Übergriffen böser Mächte zu schützen.
    Als er starb, hatte er den Grundstein für etwas gelegt, das auch noch nach Jahrhunderten all denen zum Verhängnis werden sollte, die sich anmaßten, die heilige Stele stehlen zu wollen …
    2.
    Gegenwart
    Alejandros asthmatisches Keuchen lenkte Tom Ericson von den Blättern ab, die im aufgeplatzten Einband der Jahrhunderte alten Kladde zum Vorschein gekommen waren.
    Das Feuer, das nur einen Steinwurf entfernt immer noch wütete, hatte nicht nur den Wohnwagen zerstört, sondern auch die Kladde beschädigt. Dadurch waren die handschriftlichen Notizen, die nicht auf Francisco Hernandez de Cordoba zurückgingen, erst sichtbar geworden. An ein paar Stellen angesengt, hatten sie Hitze und Flammen erstaunlich gut überstanden.
    Während Maria Luisa zu ihrem Bruder ging und ihm den Inhalator reichte, sagte sie: »Ein Spanier im Rang eines Maya-Herrschers? Wie war noch gleich sein Name?«
    Tom blickte auf die letzte Seite mit der klar leserlichen Signatur. »Diego de Landa.«
    »Hört sich komisch an, oder? Ob die Kladde überhaupt echt ist? Heutzutage weiß man das doch nie. Wurden nicht vor Jahren auch mal angebliche Tagebücher von Adolf Hitler auf den Markt geworfen? Später stellte sich heraus, dass ein gewiefter Fälscher sie angefertigt hatte.«
    Tom schüttelte den Kopf, während er das Papier, auf das Diego de Landa geschrieben und gezeichnet hatte, prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. »Aber an eine Fälschung glaube ich hier nicht. Die Kladde ist authentisch, ansonsten fresse ich einen Besen samt Reinemachefrau. Schon die Verweise auf den ›Weißen Ritter‹ decken sich dermaßen mit meinen Erlebnissen, dass der Inhalt der Kladde über jeden Zweifel erhaben ist. Warum sollte es sich mit den weiteren Blättern
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