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06 - Ein echter Snob

06 - Ein echter Snob

Titel: 06 - Ein echter Snob
Autoren: Marion Chesney
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Aufmerksamkeit zu schenken«, sagte Lady
Letitia in scharfem Ton. »Du bist zu sehr von deinem Aussehen eingenommen. Es
gibt viele schöne Frauen in London. Du wirst zum ersten Mal in deinem Leben
versuchen müssen, die Leute für dich einzunehmen. Gutes Aussehen allein reicht
nicht.«
    Zu Lady Letitias großem Ärger
lächelte Jenny nur selbstzufrieden vor sich hin, als ob sie kein Wort davon
glaubte.
    Die Kutsche rollte den Piccadilly
entlang und konnte schließlich im Verkehrsgewühl nur noch langsam
dahinkriechen. Es war ein heißer und sonniger Tag. Jenny zog das Fenster herunter
und lehnte sich hinaus.
    »Es sieht alles so sorglos aus«,
sagte sie über die Schulter zu ihrer Tante. »0 schau doch, da ist eine Familie,
die ein ganz wunderbares Boot auf dem Staubecken im Park segeln lässt. Ist das
denn erlaubt? Das ist doch Trinkwasser?«
    »Das Wasser in London ist so
verschmutzt, dass es auf ein Boot mehr oder weniger vermutlich nicht ankommt«,
sagte Lady Letitia. »Als ich das letztemal in der Stadt war, trieb ein toter
Hund im Staubecken.«
    »Sie scheinen sehr viel Spaß zu
haben«, sagte Jenny sehnsüchtig. Sie bemerkte, dass die Frauen der kleinen
Gesellschaft, mit Ausnahme einer kräftigeren, älteren, barfuß liefen. Ein
hochgewachsener junger Mann hatte seine Schuhe und Strümpfe ausgezogen und
watete in das Wasser, um das Boot zu bergen, das außer Reichweite gesegelt
war. Während sie noch zuschaute, rutschte er aus und fiel mit schrecklichem
Platschen ins Wasser. Ein Parkwärter kam, vor Empörung laut schreiend, auf die
Gruppe zugelaufen. Da fuhr die Kutsche mit einem Ruck wieder an und bog in die
Clarges Street ein, und damit war die malerische kleine Szene nicht mehr zu
sehen.
    Jenny strich mit den Augen prüfend
über die Falten ihres mit Rüschen und Spitzen reich verzierten Musselinkleides.
Sie war nie barfuß gelaufen oder über die Felder gerannt. Sie wußte nicht
einmal, wie es war, nasse Füße zu bekommen — außer in der Badewanne natürlich.
Aber sie ermahnte sich streng, dass Schönheiten wie sie es der Welt schuldig
seien, ein makelloses Äußeres zu bewahren. »Diese Frauen werden wahrscheinlich
einen schrecklichen Sonnenbrand bekommen«, sagte sie vor sich hin.
    »Wir sind da«, rief Lady Letitia.
»Und vergiss nicht, Jenny. Beste Manieren und bestes Benehmen!«
    »Natürlich«, erwiderte Jenny
ärgerlich.
    Die Kutsche hielt an. Lady Letitias
Stallbursche klappte das Treppchen herunter, und Jenny stieg hinter ihrer Tante
aus der Kutsche.
    Was für eine seltsam aussehende
Haushälterin! war Jennys erster Gedanke, als sie die wunderliche Gestalt auf
der Eingangstreppe erblickte. Es handelte sich um eine große, dünne Frau mit
einem Pferdegesicht in schäbiger schwarzer Kleidung, ihr Haar war mit einer
zerknitterten Haube bedeckt. Sie trug einen großen Schlüsselbund an der Taille,
und ihre Musselinschürze war mit Eigelb befleckt.
    »Letitia«, rief dieses seltsame
Wesen, das zu Jennys Entsetzen die Treppe heruntergelaufen kam und Lady Letitia
liebevoll umarmte.
    »Agnes, wie gut du aussiehst!«
freute sich Lady Letitia. »Jenny, mach einen Knicks! Das ist Mrs. Freemantle.
Agnes, meine Nichte Jenny.«
    Mrs. Freemantle lächelte Jenny an
und entblößte dabei eine Reihe kräftiger gelber Zähne.
    »Na, du bist ja wohl das hübscheste
Geschöpf, das mir je begegnet ist!« dröhnte Mrs. Freemantle mit tiefer Bassstimme.
»Wie eine Elfe! Komm herein. Es ist ja so heiß hier draußen. Tee! Ihr müsst Tee
trinken.«
    Jenny folgte ihrer Tante und Mrs.
Freemantle ins Haus. Der vordere Salon mit den Fenstern, die zur Straße
hinausgingen, glich einem Museum. In gläsernen Vitrinen befand sich aller erdenkliche
Kram: ausgestopfte Tiere, Glasblumen, vergoldete Uhren, Porzellanfiguren — alles
war in glitzerndem Glas aufbewahrt. Eine Vase mit verstaubten Pfauenfedern
stand im kalten Kamin, und auf einem wunderschönen Perserteppich lag Mauerwerk
herum — Sockel von antiken Säulen und Büsten ohne Kopf. Allein schon die Suche
nach einer Sitzgelegenheit gestaltet sich wie ein Hindernisrennen, dachte
Jenny, die sich um die Ausstellungsgegenstände herum und über sie hinweg einen
Weg bahnen musste. Wie soll ich je die richtigen Leute kennenlernen, wenn mich
eine solche Frau in die Gesellschaft einführt?
    Lady Letitia plapperte in
erstaunlichem Tempo über Leute, die Jenny nicht kannte und von denen sie auch
nie etwas gehört hatte — hauptsächlich, weil sie bisher Lady Letitia
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