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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Autoren: Elizabeth George
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Wie peinlich, dachte sie. Und ich will Künstlerin sein!
    Tatsache jedoch war, daß sie sich in Museen unweigerlich überwältigt fühlte, nach spätestens einer Viertelstunde erschlagen vom ästhetischen Overkill. Andere konnten umhergehen, schauen und, die Nasen keine zehn Zentimeter von der Leinwand entfernt, ihre Kommentare zum Pinselstrich geben. Deborah brauchte nur zehn Gemälde weit zu gehen, und schon hatte sie das erste vergessen.
    Sie gab ihre Sachen an der Garderobe ab, nahm sich einen Plan des Museums und begann ihre Wanderung, froh, der Kälte entronnen zu sein, dankbar bei dem Gedanken, daß das Museum wenigstens vorübergehend eine Atempause erlaubte. Ein Fotoauftrag, der sie abgelenkt hätte, mochte im Augenblick außer Reichweite sein, aber die Ausstellung hier ließ sie wenigstens noch ein paar Stunden alles andere verdrängen. Und wenn sie wirklich Glück hatte, würde die Arbeit Simon über Nacht in Cambridge festhalten. Dann mußte sie nicht die abgebrochene Diskussion weiterführen, gewann noch ein paar Stunden Schonzeit.
    Auf der Suche nach etwas, das sie fesseln konnte, überflog sie rasch den Museumsplan. Frühes Italien, Italien des 15. Jahrhunderts, Niederlande 17. Jahrhundert, England 18. Jahrhundert. Nur ein Künstler wurde mit Namen genannt. »Leonardo«, hieß es da. »Entwurf. Saal 7.«
    Sie fand den Raum mühelos, etwas abseits gelegen, nicht größer als Simons Arbeitszimmer in Chelsea. Im Gegensatz zu den Ausstellungsräumen, die sie passiert hatte, hing in Saal 7 nur ein einziges Werk, Leonardo da Vincis lebensgroße Darstellung der Jungfrau mit dem Kind zusammen mit der heiligen Anna und Johannes dem Täufer als Kind. Der Raum erinnerte an eine Kapelle, dämmrig erleuchtet von schwachen Lampen, die nur auf das Kunstwerk selbst gerichtet waren, mit einer Reihe Bänken ausgestattet, auf denen die Bewunderer sich niedersetzen konnten, um, wie es im Museumsplan hieß, eines der schönsten Werke Leonardos zu betrachten. Im Augenblick allerdings war sie alleine.
    Deborah setzte sich. In ihrem Rücken begann sich eine Spannung aufzubauen, die bis zu ihrem Nacken hochstieg. Sie war gegen die feine Ironie, die in der Entscheidung für dieses Gemälde lag, keineswegs gefeit.
    Sie entsprang dem Ausdruck der Heiligen Jungfrau, dieser absoluten Hingabe und selbstlosen Liebe. Sie entsprang dem Ausdruck in den Augen der heiligen Anna - tiefes Verständnis in einem Gesicht voller Zufriedenheit -, die auf die Jungfrau gerichtet waren. Wer hätte denn auch besser diese Mutterliebe verstehen können als die heilige Anna: die Liebe ihrer eigenen Tochter für das wundersame Kind, das sie geboren hatte! Und das Kind selbst strebte fort aus den Armen seiner Mutter, streckte die Ärmchen nach dem Täufer aus, verließ schon jetzt - schon jetzt die Mutter...
    Genau auf diesen Punkt, auf die Trennung, würde Simon sich berufen. Da sprach der Wissenschaftler aus ihm, ruhig, analytisch, geneigt, die Welt im Licht der praktischen Gegebenheiten zu sehen, wie sie von den Statistiken dokumentiert wurden. Aber sein Blick auf die Welt war ein anderer als ihrer - ja, seine ganze Welt war eine andere. Er konnte sagen, hör mir zu, Deborah, es gibt andere Bindungen als die des Bluts -, weil es für ihn einfach war, gerade für ihn, diese Haltung einzunehmen. Für sie jedoch definierte sich das Leben durch andere Faktoren.
    Mühelos konnte sie das Bild der Fotografie heraufbeschwören, das Rica mit seinem Stuhlbein durchbohrt und zerstört hatte: das schüttere Haar ihres Vaters, in dem ein leichter Frühlingswind spielte; der Schatten eines Asts, der wie eine Vogelschwinge geformt auf das Grab ihrer Mutter sank; die Narzissen, die ihr Vater gerade in die Vase steckte und die in der Sonne wie kleine Trompeten leuchteten; seine Hand, die die Blumen hielt, die Finger fest um die Stengel gelegt. Ihr Vater war achtundfünfzig Jahre alt. Er war ihr einziger Blutsverwandter.
    Deborah hatte ihren Blick auf die Da-Vinci-Zeichnung gerichtet. Die beiden weiblichen Figuren hätten verstanden, was Simon nicht verstand. Es war die Macht, das Glück, die tiefe Ehrfurcht angesichts des Lebens, das aus dem eigenen entstanden und auf die Welt gekommen war.
    Sie sollten Ihrem Körper mindestens ein Jahr Ruhe gönnen, hatte der Arzt zu ihr gesagt. Sie haben sechs Fehlgeburten gehabt. Drei davon allein in den letzten neun Monaten. Die physische Belastung, den gefährlichen Blutverlust, die hormonellen Schwankungen, all dies muß Ihr
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