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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Autoren: Elizabeth George
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die Zeichnung. »Josef ist Ihnen entgangen. Er fehlt immer. Ist Ihnen das noch nie aufgefallen? Daß es immer nur die Madonna mit dem Kind ist.«
    »Darüber habe ich tatsächlich noch nie nachgedacht.«
    »Oder Jungfrau mit Kind. Oder Mutter mit Kind. Oder die Anbetung der Heiligen Drei Könige mit einer Kuh und einem Esel. Und ein paar Engeln im Hintergrund. Aber Josef sieht man höchst selten. Haben Sie sich nie gefragt, wie das kommt?«
    »Vielleicht - na ja, er war natürlich nicht der wirkliche Vater, nicht wahr?«
    Der Mann schloß einen Moment die Augen. »Lieber Gott«, sagte er.
    Er wirkte so betroffen, daß Deborah eilig zu sprechen fortfuhr: »Ich meine, man lehrt uns doch zu glauben, er sei nicht der Vater gewesen. Aber wir wissen es nicht mit Gewißheit. Woher sollten wir auch? Wir waren ja nicht dabei. Und sie hat kein Tagebuch über ihr Leben geführt. Uns wird nur gesagt, daß der Heilige Geist zu ihr kam oder so ähnlich und. es war eben ein Wunder, nicht wahr? Eben noch war sie eine Jungfrau, und schon in der nächsten Minute war sie schwanger, und nach neun Monaten - kam das Kind auf die Welt. Sie hielt es in ihren Armen und konnte wahrscheinlich gar nicht richtig glauben, daß es ein leibhaftiges Kind war, ihr eigenes Kind, dieses Kind, nach dem sie solche Sehnsucht gehabt hatte. Ich meine, wenn man an Wunder glaubt...«
    Erst als sie sah, wie sich das Gesicht des Mannes veränderte, bemerkte sie, daß sie zu weinen angefangen hatte. Und dann hätte sie über die verrückte Situation am liebsten gelacht. Absurd, dieser seelische Schmerz. Sie warfen ihn wie einen Tennisball zwischen sich hin und her.
    Er zog ein Taschentuch aus einer Tasche seines Mantels und drückte es ihr zerknittert in die Hand. »Bitte.«
    Sein Ton war ernst. »Es ist noch fast sauber. Ich habe es nur einmal benützt. Um mir den Regen vom Gesicht zu wischen.«
    Deborah lachte zittrig. Sie drückte den Stoff kurz unter ihre Augen und gab es ihm zurück. »Gedanken haben eine Art, einfach ineinander überzugehen, nicht wahr? Man rechnet überhaupt nicht damit. Man bildet sich ein, man hätte sich gut abgeschirmt. Und plötzlich sagt man etwas, das an der Oberfläche absolut vernünftig und risikolos erscheint, und merkt, daß man vor dem, was man nicht fühlen möchte, überhaupt nicht abgeschirmt ist.«
    Er lächelte. Der Rest seines Gesichts war müde und alt, Falten an den Augen, schlaffe Haut unter dem Kinn, aber sein Lächeln war wunderschön. »Genauso geht es mir. Ich bin nur hierhergekommen, weil ich einen Ort gesucht habe, wo ich umhergehen und denken konnte, ohne naß zu werden, und statt dessen stieß ich auf diese Zeichnung.«
    »Und da dachten Sie an Josef, obwohl Sie das gar nicht wollten?«
    »Nein. In gewisser Weise hatte ich sowieso an ihn gedacht.«
    Er steckte sein Taschentuch wieder ein, und als er zu sprechen fortfuhr, schlug er einen leichteren Ton an. »Ich wäre lieber im Park spazierengegangen, um ehrlich zu sein. Ich war auf dem Weg zum St. James' Park, als es wieder zu regnen anfing. Ich denke nämlich am liebsten draußen im Freien nach. Im Herzen bin ich ein Landmensch, und wenn ich Probleme wälzen oder Entscheidungen fällen muß, dann tue ich das am liebsten in der freien Natur. So ein Marsch an der frischen Luft klärt den Kopf. Und das Herz auch. Es fällt einem leichter, das Richtige und das Falsche im Leben - das Ja und das Nein - zu sehen.«
    »Es fällt einem vielleicht leichter, es zu sehen«, meinte sie, »aber es macht es einem nicht leichter, damit umzugehen. Jedenfalls mir nicht. Ich kann nicht ja sagen, nur weil bestimmte Leute es gern hätten, ganz gleich, wie richtig es sein mag, es zu tun.«
    Er richtete seinen Blick wieder auf die Zeichnung, rollte den Plan in seiner Hand fester zusammen. »Auch ich kann das nicht immer«, sagte er. »Und da muß ich dann hinaus ins Freie. Ich wollte auf der Brücke im St. James' Park die Spatzen füttern und zusehen, wie sie mir aus der Hand fressen. Die Probleme hätten sich dann ganz von selbst geklärt.«
    Er zuckte die Achseln und lächelte bekümmert. »Aber dann kam der Regen.«
    »Und da sind Sie hierhergekommen. Und mußten sehen, daß Josef fehlt.«
    Er griff nach seinem Hut und setzte ihn auf. Die Krempe warf einen dreieckigen Schatten über sein Gesicht. »Und Sie, nehme ich an, haben nur das Kind gesehen.«
    »Ja.«
    Deborah zwang sich zu einem kurzen, mühsamen Lächeln. Sie sah sich um, als hätte auch sie Sachen hier, die sie vor
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