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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Autoren: Elizabeth George
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der Rückwand flog weg und landete auf dem Boden. Er drehte die Uhr herum und rammte sie mit Wucht einmal gegen die Arbeitsplatte. Ein Rädchen fiel heraus. Schweif und Augen standen still. Das sanfte Ticken verstummte.
    Er brach den Schweif ab. Mit dem Holzgriff des Messers zertrümmerte er die Augen. Er schleuderte die Uhr in den Müll. Eine Dose drehte sich unter dem Aufprall, und Tomatenpüree begann auf das Zifferblatt der Uhr zu tropfen.
    Wie sollen wir sie taufen, Col? hatte sie gefragt und ihren Arm unter den seinen geschoben. Tiger würde mir gefallen. Hör dir an, wie das klingt: Tiger Ticktack. Bin ich eine Dichterin, Col?
    »Vielleicht warst du eine«, sagte er.
    Er zog seine Jacke über. Leo stürmte aus dem Wohnzimmer, zu einem Spaziergang bereit. Colin hörte sein aufgeregtes Winseln und strich ihm über den Kopf. Aber als er aus dem Haus ging, ging er allein.
    Der Hauch seines Atems sagte ihm, daß die Luft kalt war. Aber er fühlte nichts, weder Wärme noch Kälte.
    Er ging über die Straße und trat durch die Pforte. Er sah, daß andere vor ihm auf dem Friedhof gewesen waren. Jemand hatte einen Zweig Wacholder auf eines der Gräber gelegt. Die anderen waren kahl, gefroren unter dem Schnee, aus dem die Grabsteine aufragten wie Schornsteine über den Wolken.
    Er ging in Richtung Mauer und zu dem Kastanienbaum, unter dem seit sechs Jahren Annie lag. Er zog ganz bewußt eine neue Spur durch den Schnee und fühlte, wie die Wächten sich an seinen Schienbeinen brachen.
    Der Himmel war so blau wie der Flachs, den sie einst vor der Haustür gepflanzt hatte. Die nackten Zweige der Kastanie waren von glitzerndem Eis und Schnee überzogen. Sie warfen ein Gittermuster auf den Boden, streckten ihre dünnen Finger zu Annies Grab hinunter.
    Ich hätte etwas mitbringen sollen, dachte er. Einen Strauß Efeu oder Stechpalme, einen Fichtenkranz. Er hätte wenigstens mit einem kleinen Besen herkommen sollen, um den Stein zu fegen und sich zu vergewissern, daß die Flechten nicht überhandnahmen. Er mußte dafür sorgen, daß die Inschrift nicht verblaßte. Und jetzt wollte er ihren Namen lesen.
    Der Grabstein war teilweise im Schnee begraben, und er begann, ihn mit den Händen freizuschaufeln. Zuerst fegte er den Stein oben ab, dann machte er die Seiten frei, dann wollte er mit den Fingern die eingemeißelten Buchstaben säubern.
    Aber da sah er ihn. Zuerst stach ihm die Farbe ins Auge, grelles Pink auf reinweißem Grund. Dann nahm er die Formen wahr, zwei sich überschneidende Ovale. Es war ein kleiner flacher Stein - glatt geschliffen von tausend Jahren fließenden Wassers -, und er lag am Kopf des Grabs, gleich zu Füßen des Grabsteins.
    Er streckte die Hand aus und zog sie wieder zurück. Er kniete im Schnee nieder.
    Ich habe Zedernholz für dich verbrannt, Colin. Ich habe die Asche auf das Grab gelegt. Ich habe den Ringstein dazugelegt. Ich habe Annie den Ringstein geschenkt.
    Wie von selbst streckte sich sein Arm. Seine Hand hob den Stein auf. Seine Finger schlossen sich um ihn.
    »Annie«, flüsterte er. »O Gott. Annie.«
    Er spürte den kalten Wind vom Hochmoor über sich hinwegfegen. Er spürte die eisige, gnadenlose Kälte des Schnees. Er spürte den kleinen Stein in seiner Hand. Er spürte ihn hart und glatt.
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