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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Autoren: Elizabeth George
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konnte im Dunklen ihre Umrisse erkennen.
    »Zum Ausgleich?« fragte er und spürte, daß sie den Kopf schüttelte.
    »Damals waren wir uns entfremdet, nicht wahr? Ich habe dich geliebt, aber du hast dir nicht gestattet, mich wiederzulieben. Darum habe ich versucht, einen anderen zu lieben. Und ich habe ihn geliebt, weißt du.«
    »Ja.«
    »Tut es dir weh, daran zu denken?«
    »Ich denke nicht daran. Tust du's?«
    »Manchmal überfällt es mich. Ich bin nie darauf vorbereitet. Plötzlich ist es da.«
    »Und dann?«
    »Dann fühle ich mich zerrissen. Ich denke daran, wie sehr ich dich verletzt habe. Und ich möchte alles anders haben.«
    »Die Vergangenheit?«
    »Nein. Die kann man nicht ändern. Die kann man nur verzeihen. Mir geht es um die Gegenwart.«
    Er ahnte, daß sie ihn auf etwas hinführte, was sie sorgfältig durchdacht hatte: vielleicht an diesem Abend, vielleicht in den Tagen, die ihm vorausgegangen waren. Er wollte ihr helfen, das auszusprechen, was auszusprechen sie für notwendig hielt, aber er sah die Richtung noch nicht klar. Er konnte nur ahnen, daß sie fürchtete, das Unausgesprochene würde ihn irgendwie verletzen Und wenn er auch Diskussionen nicht fürchtete - ja, er selbst war entschlossen gewesen, die Diskussion in Gang zu bringen, seit sie aus London abgereist waren -, so merkte er doch, daß er im Moment eine Diskussion nur wollte, wenn er sie auch kontrollieren konnte. Die Tatsache, daß sie die Diskussion in die Hand nehmen und zu einem Ziel führen wollte, das er nicht klar voraussehen konnte, weckte mißtrauische Vorsicht in ihm. Er wollte sie abschütteln, aber es gelang ihm nicht ganz.
    »Du bist alles für mich«, sagte sie leise. »Und das wollte ich auch für dich sein. Alles.«
    »Das bist du.«
    »Nein.«
    »Diese Geschichte mit dem Kind, Deborah. Die Adoption...«
    Er sprach den Satz nicht zu Ende, weil er nicht mehr weiter wußte.
    »Ja«, sagte sie. »Das ist es. Die Geschichte mit dem Kind. Ganz werden, heil sein. Das war es, was ich für dich wollte. Das sollte mein Geschenk sein.«
    Da erkannte er die Wahrheit. Sie lag zwischen ihnen, und es gelang ihnen nicht, sie zu verdauen. Er hatte in den Jahren ihrer Trennung unablässig darauf herumgenagt. Und seither kaute Deborah darauf herum. Selbst jetzt noch, da es gar nicht mehr nötig war.
    Er sagte nichts mehr. Er vertraute darauf, daß sie nun auch den Rest aussprechen würde. Sie war jetzt dem Kern zu nahe, um vor ihm zurückzuscheuen; und vor den Dingen zurückzuschrecken, war ja auch gar nicht ihre Art. Jetzt erkannte er, daß sie es monatelang getan hatte, um ihn zu schützen. Dabei hatte er diesen Schutz gar nicht gebraucht, weder vor ihr noch vor diesem Unausgesprochenen.
    »Ich wollte es wiedergutmachen«, sagte sie.
    Sprich den Rest aus, dachte er. Es tut mir nicht weh, es wird auch dir nicht weh tun, du kannst ihn aussprechen.
    »Ich wollte dir etwas Besonderes schenken.«
    Es ist ja gut, dachte er. Es ändert nichts.
    »Weil du versehrt bist.«
    Er zog sie zu sich herunter. Zuerst widersetzte sie sich, aber als er ihren Namen sagte, kam sie zu ihm. Und dann sprudelte es alles aus ihr heraus. Vieles machte keinen Sinn, ein merkwürdiges Durcheinander von Erinnerungen und den Erlebnissen und Einsichten der letzten Tage. Er hielt sie nur fest und hörte zu.
    Sie erinnerte sich, sagte sie, wie man ihn aus dem Sanatorium in der Schweiz zurückgebracht hatte. Vier Monate war er weg gewesen. Sie war damals dreizehn Jahre alt gewesen, und sie erinnerte sich genau an jenen regnerischen Nachmittag. Sie hatte es alles vom obersten Stockwerk des Hauses aus beobachtet. Wie ihr Vater und seine Mutter ihm langsam die Treppe hinauf gefolgt waren. Keinen Moment hatten sie ihn aus den Augen gelassen, während er sich am Geländer hochgezogen hatte, immer wieder hatten sie hastig die Arme ausgestreckt, um ihn zu aufzufangen, sollte er das Gleichgewicht verlieren, aber nicht ein einziges Mal hatten sie ihn berührt, weil sie gewußt hatten, daß man ihn nicht berühren durfte, nicht auf diese Weise, jetzt nicht mehr. Und eine Woche später, als sie beide allein im Haus gewesen waren sie, Deborah, im Arbeitszimmer und dieser zornige Fremde namens Mr. St. James ein Stockwerk darüber -in seinem Schlafzimmer, aus dem er seit Tagen nicht herausgekommen war -, hatte sie das Krachen gehört, den schweren Aufprall, und hatte gewußt, daß er gestürzt war. Sie war die Treppe hinaufgerannt und hatte, von Unschlüssigkeit gequält, vor seiner
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