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0553 - Geisterstunde

0553 - Geisterstunde

Titel: 0553 - Geisterstunde
Autoren: Werner Kurt Giesa
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verführerisch in seinem Sessel räkelte.
    »Wie bist du hier hereingekommen?« wollte er wissen.
    Das Mädchen zog die Knie unters Kinn. »Du hast mich geträumt«, erklärte sie lächelnd.
    »Blödsinn«, brummte Stepan.
    Natürlich erinnerte er sich an seinen Traum. Ja, das Mädchen im Sessel war das gleiche, von dem er geträumt hatte.
    Das gleiche Gesicht, die gleichen Augen, das Haar, der Körper, die Art, sich zu bewegen, das Lachen…
    »Das gibt’s nicht«, keuchte er. »Das kann es einfach nicht geben. Träume sind Träume und können nicht Wirklichkeit werden. Wie bist du in mein Appartement gekommen?«
    Sie wiederholte: »Du hast mich geträumt.«
    Er schüttelte den Kopf. »Laß die dummen Scherze!«
    »Gefalle ich dir etwa nicht?« stieß sie hervor. »Das wäre doch unmöglich!«
    Ihre Stimme klang maßlos enttäuscht, und auch ein wenig traurig. Sie erhob sich aus dem Sessel und drehte sich vor Stepan wie auf einer Bühne einmal um sich selbst.
    »Zauberhaft«, bemerkte er leise.
    »Das treffende Wort«, entgegnete sie fast etwas zu kühl.
    Er überwand sich, schlug die Decke zurück und stand auf. Hastig verschwand er im kleinen Badezimmer, das Mädchen sah ihm nach. Als er nach einer Viertelstunde geduscht, rasiert und angekleidet zurückkam, war sie immer noch da.
    Sie saß wieder im Sessel.
    Er begann sich ein wenig sicherer zu fühlen, dennoch war ihm die Anwesenheit der immer noch nackten Schönheit unheimlich.
    Du hast mich geträumt…
    Das war einfach unmöglich, das gab es nur in Romanen oder Filmen. Träume waren und bleiben Träume, die Wirklichkeit war etwas ganz anderes. Und da dieses Mädchen in seinem Sessel saß und Stepan hellwach war, mußte der hübsche Nackedei Wirklichkeit sein.
    Aber er konnte sich nicht erinnern, die Blonde in die Wohnung gelassen zu haben.
    Er wußte auch, daß er gestern abend nicht betrunken gewesen war. Er hielt sich vom Alkohol fern. Wenn er das Mädchen irgendwo aufgefischt und mitgenommen hatte - warum wußte er dann nichts mehr davon? Und warum hatte sie dann im Sessel geruht, statt neben ihm im Bett zu liegen? Und wieso hatte er von ihr geträumt?
    Ein schönes Mädchen unter der schwarzen Sonne…
    »Ja, was ist denn?« fragte er provozierend unwirsch. »In einer halben Stunde muß ich im Büro sein. Der Genosse Funktionär wartet nicht gern!«
    Natürlich hieß der jetzt nicht mehr Genosse Funktionär , nachdem die kommunistische Welt zusammengebrochen war, doch die alten Begriffe saßen noch zu tief in ihm.
    »Kann ich’s ändern?« fragte sie und strich sich in einer herausfordernden Geste durch ihr Haar. »Du hast mich geträumt, also hast du auch für mich zu sorgen.«
    Ich schnappe über, dachte er und tat es dann doch nicht.
    »Du kannst dich ruhig wieder anziehen, ich habe nur wenig Zeit. Hast du schon gefrühstückt?«
    Sie stand auf und sah demonstrativ an sich herunter, und sie gefiel ihm dabei immer mehr.
    Stepan begann seine leichte innere Scheu vor ihrer Nacktheit zu verlieren. Das kompromittierende Intime wich jener Natürlichkeit, die er im Traum an ihr beobachtet hatte. Aber ihre Gegenfrage stürzte ihn in erneute Verwirrung.
    »Was soll ich denn anziehen? Hast du schon was besorgt oder geträumt?«
    Stepan starrte sie entgeistert an.
    »Deine Kleidung!« sagte er. »Wo ist sie? Zieh sie an!«
    »Ich habe keine Kleidung«, gestand sie.
    Er schüttelte den Kopf. »Hör auf mit dem Unsinn. Du kannst unmöglich splitterfasernackt durch Moskau hierher gelaufen sein. Also versuch nicht, mich zum Narren zu halten!«
    Er sah sich um aber das Appartement war klein und, seiner Ordnungsliebe entsprechend, durchaus aufgeräumt, so daß er schnell gefunden hätte, wonach er suchte. Doch da war keine Frauenkleidung, keine Schuhe, kein Slip, kein BH, überhaupt nichts. Er konnte sich aber auch nicht vorstellen, daß sie ihre Sachen einfach aus dem Fenster oder in den Müllschacht geworfen hatte. Welchen Sinn sollte das haben?
    Er griff sich an den Kopf. »Was soll ich bloß mit dir machen? Bald glaube ich wirklich, daß du ein Traum bist.« Er lachte kurz auf. »Das Mädchen meiner Träume. Aber einen guten Geschmack scheine ich zu haben.«
    »Danke für das Kompliment«, entgegnete sie. »Nein, gefrühstückt habe ich noch nicht. Ich bin ja erst vor zwanzig Minuten geworden .«
    Stepan nickte resigniert. Wenn sie meinte…
    »Wie heißt du überhaupt?«
    Sie zuckte mit den wohlgerundeten Schultern. »Das ist dein Problem. Du hast mich geträumt,
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