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039 - Der Griff aus dem Nichts

039 - Der Griff aus dem Nichts

Titel: 039 - Der Griff aus dem Nichts
Autoren: Ernst Vlcek
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Alten verdüsterte sich.
    „Ich sehe Sie in diesem Leben zum ersten Mal“, sagte er. „Aber ich bin sicher, daß ich Sie auch in meinem früheren Leben noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.“
    „Sind Sie ganz sicher?“ fragte Dorian.
    Der Alte runzelte die Stirn. Das war eine so menschliche Geste, daß sich Dorian gewaltsam in Erinnerung rufen mußte, das Latimer in seiner ursprünglichen Form nicht mehr existierte.
    „Wer ist schon ganz sicher?“ sagte Latimer. „Und was soll es? Es ist nicht mehr von Bedeutung, ob ich Sie einmal gekannt habe oder nicht. Aber vielleicht werde ich Sie noch näher kennen lernen. Es würde mich freuen. Sind Sie hier, um sich uns anzuschließen?“
    Dorian erschauerte.
    „Ich werde bis zuletzt um meine Freiheit kämpfen“, sagte er entschlossen.
    Er hatte kaum ausgesprochen, als er sah, daß das Lebenskollektiv in Aufruhr geriet. Die Muskelstränge unter seinen Füßen gerieten in Bewegung, die Arme pendelten wie im Wind hin und her, die Finger verkrampften sich und ballten sich zu Fäusten und entspannten sich im nächsten Augenblick wieder. Die Herzen pulsierten schneller, das Nervensystem zuckte. Die Münder stimmten ein Wehklagen an.
    „Kommen Sie zu uns – oder gehen Sie, mein Herr!“
    Dorian verstand die Erregung des Lebenskollektivs nicht sofort. Aber dann kam ihm der leise Verdacht, daß die einzelnen Persönlichkeiten eifersüchtig auf ihn waren. Sie neideten es ihm offensichtlich, daß er noch seinen ursprünglichen Körper hatte und über diesen frei verfügen konnte. Ja, so mußte es sein. Alle diese erbarmungswürdigen Menschen waren zu einem Kollektiv zusammengeschlossen, aber sie waren, jeder für sich, immer noch Individualisten. Das war die Achillesferse des Lebenskollektivs.
    „Sind Sie glücklich?“ wandte sich Dorian an Latimer. „Sagen Sie mir, ob Sie so etwas wie Gefühl kennen oder ob Sie bereits völlig abgestumpft sind?“
    „Was ist denn schon Glück?“ echote Latimer. „Wir sind nicht da, um glücklich zu sein. Es genügt, wenn wir schön sind. Wir wollen für unseren Meister schön sein. Das ist unsere Bestimmung.“
    „Und mehr verlangen Sie wirklich nicht?“ fragte Dorian. „Haben Sie denn noch Gefühle? Können Sie denn noch Glück, Trauer, Freude und Schmerz empfinden?“
    Er trat mit aller Kraft auf eine Hand. Am anderen Ende des Lebenskollektivs ertönte ein Schmerzensschrei.
    „Es tut also weh“, stellte Dorian fest. „Sie sind gegen Schmerz nicht unempfindlich. Aber das ist der physische Schmerz. Können Sie auch psychische Qualen erleiden?“
    „Es schmerzt! Es tut weh!“ rief der Chor wehklagend.
    Dorian lachte spöttisch. „Ja, ich sehe, daß ihr alle den seelischen Schmerz auskostet. Ihr weidet euch an euren Leiden. Ihr habt einen sadistischen Spaß daran, die anderen Kollektivteile leiden zu sehen. Und ihr kostet mit masochistischer Lust eure eigene Qual aus.“
    „Wir sind nur geschaffen, um schön zu sein.“
    „Nein, ihr seid noch immer fühlende und denkende Wesen“, rief Dorian. „Und ihr seid Einzelpersönlichkeiten, die nur an das Lebenskollektiv gefesselt sind.“
    „Wir sind schön! Wir sind schön!“ rief der Chor.
    Aber es klang unzufrieden und nicht überzeugend. Dorian wußte, daß es ihm gelungen war, die einzelnen Individuen zu verunsichern. Als äußeres Anzeichen des seelischen Aufruhrs wertete Dorian die Tatsache, daß das Kollektiv in Bewegung geriet. Die Arme zuckten konvulsivisch, die Organe arbeiteten schneller, die Münder gaben unartikulierte Laute von sich, und die Gesichter verzerrten sich.
    „Ruhig, mein Schöner!“ ertönte Latimers Stimme. „Sei ganz ruhig, Schöner! Es besteht kein Grund zur Aufregung.“
    Im ersten Moment war Dorian verwirrt, weil Latimers Stimme aus einer ganz anderen Richtung kam, aber als er dann in die Richtung blickte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
    Latimer stand in voller Lebensgröße auf der anderen Seite des Kollektivs. Nachdem er das Lebenskollektiv einigermaßen beruhigt hatte, wandte er sich Dorian zu und sagte: „Da du so brennend daran interessiert bist, wie man als Teil des Kollektivs fühlt, Dorian, werde ich dich ihm einverleiben.“
    Was Dorian bis zuletzt nicht wahrhaben wollte, stand nun unwiderlegbar fest: Latimer war Fuller.
    Es paßte plötzlich alles zusammen.
    Fuller mußte nach seiner Rückkehr aus Europa eine andere Identität annehmen, um sich voll und ganz seinen schaurigen Experimenten widmen zu können. Der alte Ben
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