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034 - Die toten Augen

034 - Die toten Augen

Titel: 034 - Die toten Augen
Autoren: Marc Agapit
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hinüber und drückte ihr einen Kuß auf die Wange. In diesem Augenblick kam ihr Chef. Ich tat so, als interessierte ich mich sehr für einen Strauß violetten Flieder. Der Besitzer des Ladens war ein kleiner, dicker Mann mit Glatze, auf den ich überhaupt nicht eifersüchtig war. Er stellte die Blumen her. Rose war seine einzige Angestellte, daher hatte er bestimmt keine großen Ausgaben. Das Dumme war natürlich, daß seine Blumen nie welkten, während man echte Blumen jeden Tag ersetzen muß. Deshalb kamen auch nur wenige Kunden. Man konnte einen von diesen Sträußen hundert Jahre lang haben und ihn selbst noch seinen Kindern und Enkeln vermachen. Es handelte sich also nicht gerade um einen der einträglichsten Berufe.
    Die meisten Kunden waren Frauen. Manchmal kam jedoch ein junger Mann in den Laden. Er tat so, als wolle er Blumen kaufen, aber in Wirklichkeit hatte er nur vor, mit Rose zu flirten. Und da wurde ich schrecklich böse.
    Aber wenigstens wußte ich ziemlich sicher, daß Rose mich liebte. Sie hatte es mir nie gesagt, aber so etwas spürt man. Im übrigen sah ich nicht schlecht aus: ich war groß, schlank, hatte blonde Locken und auffallend grüne Augen. Rose lächelte nur, wenn ich ihr meine Vorzüge in allen Farben schilderte. Ich hätte gerne so eine Frau geheiratet wie sie. Rose war vernünftig und hübsch. Zu ihrem langen braunen Haar hatte sie erstaunlich schöne blaue Augen. Aber das Grün meiner Augen war noch schöner!
    Der Besitzer sah in mir einen Kunden und verschwand wieder.
    „Wann heiraten wir?“ fragte ich Rose.
    „Wenn du dreißig bist und einen Beruf hast.“
    Ich wurde blaß vor Wut. Dreißig!
    Ich war achtzehn und besaß keinen Pfennig. Ich war Waise, und mein Vormund gab mir gerade so viel, daß ich nicht verhungerte. Sobald ich einundzwanzig wurde, setzte er mich sicher vor die Tür.
    Ich sah sie an und sagte: „Bald werde ich Arzt sein.“
    „Was? Und dein Englischdiplom? Ich dachte, du wolltest Lehrer werden.“
    „Nein, diesen Plan habe ich aufgegeben. Ich möchte Arzt werden, Augenarzt wahrscheinlich.“
    Sie sah zur Decke und schüttelte den Kopf.
    „Du bist ein unbeständiger Junge. Du wechselst deinen Beruf wie dein Hemd. Genauso wird es mit deinen Heiratsplänen sein.“
    „So etwas darfst du nicht sagen.“ „Nun ja, komm wieder, wenn du Arzt bist.“
    „Aber so lange kann ich doch nicht warten!“ „Worauf warten?“ „Machst du dich über mich lustig?“ Manchmal hätte ich sie ohrfeigen können. Sie beugte sich wieder über ihre Stickerei und sagte, ohne mich anzusehen: „Du hättest dein Diplom bald haben und dann als Lehrer arbeiten können. Warum hast du damit aufgehört?“
    „Wenn meine Eltern mir etwas Kapital hinterlassen hätten, als sie starben, hätte ich mir ein Geschäft und eine Wohnung kaufen können.“
    Sie zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, du wartest, daß dir das Glück eines Tages in den Schoß fällt.“
    Als ich in mein ärmliches Zimmer im Haus meines Vormunds zurückkehrte, mußte ich plötzlich an meine Tante Claire denken. Die Schwester meiner Mutter. Eine Frau, die einen sehr reichen Engländer geheiratet hatte, einen Grafen, der ein Schloß in England besaß.
    Jetzt hatte ich das Gefühl, daß Rettung nahte. Das war ein Hoffnungsschimmer.
    Warum sollte meine wohlhabende Tante mir nicht helfen? Natürlich wollte ich nichts geschenkt haben, nein, nur geliehen. Eine Summe, die genügen würde, mir ein Geschäft zu kaufen. Dann konnte ich Rose heiraten, eine Wohnung mieten, und nebenbei würde ich Medizin studieren. Rose wäre inzwischen im Laden. Und zu Hause hätten wir eine Haushälterin.
    Tante Claire! Ich erinnere mich, daß meine Eltern immer etwas abfällig von ihr sprachen. Vor ihrer Heirat hatte sie ein lockeres Leben geführt. Sie war eine hübsche, üppige, lebenslustige Frau. Sie schrieb oft an meine Mutter, bekam aber nie eine Antwort.
    Als sie uns einmal besuchte, stellten alle mit Erstaunen die große Ähnlichkeit fest, die zwischen uns bestand. Vor allem hatten wir beide die gleichen grünen Augen. Ich liebte meine Tante sehr.
    Als ich etwa sechs Jahre alt war, heiratete sie. Der Graf nahm sie nicht aus Liebe zur Frau. Er brauchte nach dem Tod seiner ersten Gemahlin wieder eine Mutter für seinen kleinen Jungen. Frederick war ein sehr scheues Kind, zu Tante Claire aber hatte er sofort Vertrauen gefaßt.
    Tante Claire lud unsere Familie daraufhin mehrmals zu sich nach England ein, aber meine Mutter nahm die
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