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034 - Die toten Augen

034 - Die toten Augen

Titel: 034 - Die toten Augen
Autoren: Marc Agapit
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Claire aß seelenruhig weiter.
    Jetzt strich sie wohl gerade Butter auf eine Scheibe Brot, nahm etwas vom Ei, kaute, schluckte es herunter.
    Jetzt etwas Schinken. Bald kam die Marmelade an die Reihe. Dann würde sie noch einige Tassen leicht gezuckerten Tee trinken, in den sie langsam ein paar Tropfen Milch hatte fließen lassen. Das konnte lang dauern. Und es dauerte wirklich lang.
    Der junge Mann lauschte, stellte sich in allen Einzelheiten vor, wie sie aß, und dachte an sein eigenes Frühstück, das er sich verscherzt hatte. Wie konnte sie in aller Ruhe speisen, während er hungerte, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als ihr Frühstück?
    Er hörte, wie der Stuhl gerückt wurde. Sie stand auf, sorgfältig schob sie das Tablett durch die Öffnung, damit es wieder abgeholt werden konnte, wenn das Mittagessen gebracht wurde.
    „Tante Claire“, rief er, „behalte doch das Tablett in deiner Zelle. Dann muß er hineinkommen, und du wirfst dich auf die Knie und bittest ihn, dich freizulassen. Vielleicht erreichst du etwas, du bist doch eine Frau.“
    Sie antwortete nicht. Er hörte, daß sie sich niederlegte.
    Er wußte nicht, was er tun sollte und ging zu der Wand, in der sich das winzige Fenster befand. Er versuchte, ein Stückchen Himmel zu sehen, aber die Mauer verdeckte ihn. Er hätte dieses Fenster erreichen können, wenn er seinen Stuhl davor schob, doch das Fenster war vergittert, und er hatte keine Feile. Nun, immerhin konnte er sich an diesen Gitterstäben erhängen, wenn er wollte.
    Mutlos warf er sich wieder auf seinen Strohsack. Sein Magen knurrte, das Frühstück fehlte ihm. Es hätte wenigstens eine kleine Ablenkung bedeutet.
    Irgendwann schlief er ein. Da hörte er plötzlich ein Seufzen. Jetzt fing es wieder an! Er rief: „Tante Claire, Tante Claire!“
    Diesmal antwortete sie. „Fred, sie haben von einem glühenden Eisen gesprochen. Wann wird er kommen? Was wird er mit uns machen? Fred, Fred, so hilf mir doch, hilf mir!“
    Und wieder brach sie in dieses schauerliche Schluchzen und Jammern aus, das an- und abschwoll und die Zelle mit Grauen füllte. Es gellte in den Ohren des jungen Mannes. Er preßte die Hände auf seine Ohren, aber das Heulen drang durch, vielfach von den Mauern zurückgeworfen.
     

     
    Wenn man in den Kellergewölben die Schreie auch hörte, in den oberen Etagen des Schlosses herrschte Grabesstille. Die Geräusche wurden von schweren Teppichen geschluckt.
    Es wohnten nur drei Personen im Schloß. Der Graf B., der Verwalter Matthew, der die beiden Gefangenen im Verlies bewachte und versorgte, und seine Frau Jane, die als Haushälterin arbeitete.
    Um neun Uhr, nachdem er im Eßzimmer sein Frühstück zu sich genommen hatte, zog sich der Graf in die Bibliothek zurück. Er nahm ein Buch aus dem Regal, setzte sich in den Sessel, las aber nicht.
    Er war ein Mann von sechzig Jahren, hatte graues Haar, eine lange, gebogene Nase, schmale Lippen und harte Augen. Seine Figur war sehr schlank, er sah gesund aus.
    Er zog an einer Schnur, die in der Nähe seines Sessels angebracht war. Irgendwo erklang eine Glocke. Jane, die Haushälterin, eilte sofort herbei. Leise klopfte sie an die Tür.
    „Treten Sie ein“, sagte der Graf. „Setzen Sie sich, Jane.“
    „Wenn Sie erlauben, Mylord, bleibe ich in Ihrer Gegenwart lieber stehen.“
    Jane war eine große, kräftige Frau von etwa vierzig Jahren. Ihr Mann, der Verwalter, war schon an die Sechzig, wie der Graf auch.
    „Wie Sie wollen“, sagte der Graf. Und nach einem Augenblick des Nachdenkens fragte er: „Was sagt man im Dorf?“
    „Ich habe das Gerücht verbreitet, daß die Frau Gräfin unter einer ernsthaften Augenkrankheit zu leiden habe. Schon während ihrer Reisen auf dem Kontinent sei ein berühmter Spezialist mit ihrer Behandlung betraut worden. Jetzt müsse sie wegen ihrer Krankheit ganz isoliert strenge Bettruhe einhalten. Das sollte ich doch sagen, Mylord.“
    „Gut. Hat man es geglaubt?“
    „Ja, natürlich. Niemand hat etwas Verdächtiges daran gefunden.“
    „Und was haben Sie wegen der Dienstboten gesagt?“
    „Ich habe erzählt, daß wir vielleicht bald wieder nach Frankreich reisen müßten, um Mylady untersuchen zu lassen. Und daß wir deshalb nicht mehr viel Personal behalten konnten. Trotzdem hat sich heute morgen ein junges Mädchen vorgestellt, das als Küchenhilfe arbeiten wollte. Aber ich habe sie vorsichtshalber abgewiesen.“
    „Gut. Und …“
    Er unterbrach sich und wandte den Blick von Jane
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