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034 - Die toten Augen

034 - Die toten Augen

Titel: 034 - Die toten Augen
Autoren: Marc Agapit
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erlaubte, zur Toilette zu gehen oder den Tisch zu erreichen.
    Der Raum besaß nur ein kleines, vergittertes Fenster ganz hoch unter der Decke, durch das am Mittag ein wenig Licht drang. Dazu kam manchmal ein Hauch nach Abwässern stinkender Luft.
    Es war eines der Verliese des jahrhundertealten Schlosses, das im Lauf der Zeit immer wieder restauriert und renoviert werden mußte. Nur die dicken Mauern des Kellergewölbes hatten den Stürmen der Zeit getrotzt.
    Er war gerade erwacht. Es mußte früher Morgen sein, denn das Rechteck des Fensters wurde geisterhaft erhellt. Aber man konnte noch nicht die einzelnen Gegenstände im Raum unterscheiden.
    Er erhob sich vom Strohsack. Sein rechtes Bein wurde von der schweren Kette festgehalten. Tastend streckte er die Hände aus und ging, die Kette hinter sich herschleifend, auf die gegenüberliegende Wand zu. Als seine Hände die Mauer berührten, ballte er sie zu Fäusten und trommelte mit aller Kraft dagegen.
    Aus Leibeskräften schrie er: „Tante Claire! Tante Claire!“
    Die Mauer war viel zu dick, um den Schall durchzulassen. Das Rufen drang durch die Gucklöcher, die in beide Türen geschnitten waren. Sie hatten die Größe von Untertassen, und man konnte sie nicht verschließen.
    Gequält und angstvoll antwortete eine Stimme aus dem anderen Verlies: „Fred! Fred!“
    Der junge Mann humpelte so schnell er konnte zum Guckloch. Leise, aber deutlich sagte er: „Tante Claire, komm an die Tür, halte dein Ohr an das Guckloch. Ich möchte leise mit dir sprechen, damit man uns nicht hört. Es könnte sein, daß er uns belauscht.“
    Ein paar rasche Schritte waren zu hören. Dann durchdrang eine schrille Stimme die Gefängnisstille. „Fred, was wird er mit uns machen?“
    „Nichts. Schrei doch nicht so laut. Was sollte er denn mit uns machen?“
    „Er hat von glühenden Eisen gesprochen. Vielleicht brennt er uns ein Zeichen auf die Haut, um uns zu quälen. Ich habe Angst!“
    „Aber nicht doch. Seit wir hier gefangen sind, hätte er schon längst Gelegenheit gehabt, so etwas zu tun, nicht?“
    „Der Doktor hat gesagt …“
    „Er wollte uns nur Angst machen. Leg dein Ohr an das Guckloch, ich muß leise mit dir sprechen. Bist du noch da?“
    „Ja.“
    Er flüsterte: „Ich habe etwas beschlossen. Wenn der Doktor das Frühstück bringt, sage ich, ich sei krank. Dann muß er hereinkommen, um mich zu untersuchen. Und ich werde mich auf ihn stürzen. Ich erwürge ihn, nehme ihm die Schlüssel ab – und wir sind frei.“
    „Er ist stärker als du, er wird dich töten.“
    „Nein, ich falle ihn von hinten an. Erst ein Faustschlag, der ihn betäubt, und dann …“
    Aber sie hörte ihm nicht mehr zu. Sie stieß einen langen Seufzer aus, dann schwieg sie. Sicher war sie zu ihrem Strohsack zurückgegangen. Er wußte, was nun kam: sie würde jammern wie üblich. Diese Frauen! Sie gingen mit ihrem Klagen einem so auf die Nerven, daß man keine Pläne machen konnte und zur Tatenlosigkeit verurteilt war.
    Er wartete einen Augenblick auf das, was kommen mußte. Und plötzlich ertönte ein schauriges Heulen, das ihm kalt den Rücken herunterlief und in seinen Ohren gellte.
    Es dauerte lange, etwa eine Stunde. Sie hatte sich auf ihr Bett geworfen und weinte vor Schmerz, Angst und Verzweiflung.
    Er streckte sich auf seinem Lager aus und hielt sich die Ohren zu, um dieses Heulen nicht mehr hören zu müssen, das ihm jeden Mut nahm. Aber die Schreie drangen in seine Ohren, tausendfach verstärkt durch die Phantasie und die gespannten Nerven.
    Und mit einemmal verstummte das Heulen. Sie mußte erschöpft innehalten. Als er die Hände von den Ohren nahm, hörte er ihr Seufzen, dieses Keuchen, das immer vor und nach ihren Anfällen kam. Dann war es völlig still.
    Der junge Mann hatte das Bedürfnis, ihre Hand zu berühren, um sie und sich selbst zu trösten. Dazu mußte er den Arm durch die rechteckige Öffnung ganz unten in die Mauer stecken, durch die der Doktor das Essen auf einem Tablett in die Zelle zu schieben pflegte.
    Diese beiden Öffnungen lagen nahe beisammen, und einmal war es ihnen gelungen, einander an den Fingerspitzen zu berühren. Ein Stückchen warme Haut, ein menschlicher Kontakt, der sie ein wenig getröstet hatte in ihrer abgrundtiefen Verzweiflung. Aber plötzlich hatte sie ihre Hand zurückgezogen, als habe sie sich verbrannt.
    Er legte sich vor der Öffnung flach auf den Boden und streckte seinen Arm hinaus. Mit der Hand glitt er, so weit wie er konnte, hinüber
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