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034 - Der Weg nach Westen

034 - Der Weg nach Westen

Titel: 034 - Der Weg nach Westen
Autoren: Jo Zybell
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oder miefendes Fleisch brachten. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand und schloss die Augen.
    Das letzte Ritual, bevor er die Stunden bis zur nächsten Nacht mit mathematischen Gleichungen und physikalischen Berechnungen verbringen würde Hirntraining. Nicht körperlich, sondern auch geistig wollte McKenzie fit sein, wenn er diesen Kerker einst verließ. Daran, dass er ihn verlassen würde, hatte er noch keine Sekunde gezweifelt.
    Er stellte sich drei runde Plattformen vor. Aus jeder ragte ein Metallstab. Auf der ersten Plattform McKenzie nannte sie A ruhte eine Pyramide aus sieben Scheiben. Durch ein Loch in ihrem Zentrum waren sie über den Metallstab gesteckt. Ganz zuunterst lag die größte Scheibe.
    Die Spitze der Pyramide bildete die kleinste Scheibe. Die Aufgabe bestand darin, die sieben Scheiben der Pyramide auf die leere Plattform B umzuschichten. Und zwar nach zwei strengen Regeln: Erstens durfte immer nur eine Scheibe bewegt werden, und zweitens durfte niemals eine größere über einer kleineren Scheibe liegen. Die dritte Plattform C konnte dabei als Ablagefläche benutzt werden.
    »Turm von Hanoi« nannte sich dieses alte mathematische Problem. Ursprünglich war es mit vierundsechzig Scheiben beschrieben worden und nicht lösbar: Selbst bei einer Handbewegung pro Sekunde würde ein Mensch über vierhundert Milliarden Jahre brauchen, um die Aufgabe zu erfüllen. Und ein Computer, der rechnerisch eine Milliarde Scheiben pro Sekunden umsetzte, wäre vierhundert Jahre lang für keine andere Rechenoperation zu gebrauchen.
    McKenzie vollzog die Übung in Gedanken, wie gesagt um seine logischen Fähigkeiten und seine Imaginationskraft zu trainieren. Und um nicht verrückt zu werden.
    Mit drei Scheiben hatte er angefangen. Gleich als die Kopfschmerzen nachgelassen hatten. Über hundert Tage war das her. An seinem Geburtstag hatte er es zum ersten Mal fertig gebracht, sechs Scheiben regelkonform umzuschichten. In ungezählten Gedankenschritten. Seit fünf Tagen versuchte er sich an sieben Scheiben.
    Deutlich wie wirkliche Gegenstände sah er die Plattformen, Scheiben und Stäbe vor sich. Nach etwa zehn Minuten vierundzwanzig Mal hatte er seine Scheiben hin und her bewegt näherten sich Schritte vor seiner Kerkertür.
    Er ließ sich nicht stören. Auch nicht, als die schwere Tür sich knarrend öffnete. Erst als er weder weitere Schritte noch das typische Geräusch hörte, mit dem normalerweise Krug und Tonschüssel auf den Steinboden gesetzt wurden, brach er die Übung ab und öffnete die Augen.
    Zwei von ihnen standen reglos im Halbdunkel vor der offenen Tür. Den Kleineren erkannte McKenzie sofort der schräge Hals, die hochgezogene rechte Schulter, die unnatürlich langen Arme und das aufgedunsene Gesicht: der Bucklige, der ihm vor Monaten das betäubende Gesöff gebracht hatte.
    Der Mann stützte sich auf einen Holzprügel und lugte zu McKenzie herüber. Die krummen Beine und sein kurzer Oberkörper waren in dunkle Lumpen gewickelt, die teilweise in langen Fetzen an ihm herunter hingen. Etwas wie eine geflochtene Kappe bedeckte seinen haarlosen Schädel.
    Den Mann neben ihm hatte McKenzie noch nie gesehen. Jedenfalls erinnerte er sich nicht an ihn. Er war größer und dürrer als der Bucklige. Sein Körper steckte in einem sackartigen Gewand. Ausgemergelt war das lange Gesicht mit den großen, tief in den Höhlen liegenden Augen. Das Haar stand ihm in filzigen Quasten vom Schädel ab. Trotz des Dämmerlichts meinte McKenzie das Stechende seines Blicks zu sehen. Vielleicht spürte er es auch nur.
    Einige Atemzüge lang starrten die Exoten an der Tür ihn nur an. Und McKenzie starrte zurück. »Und?«, fragte er schließlich.
    »Irgendwelche Probleme?« Seine Stimme hallte aus dem Gewölbe zurück, denn er sprach laut, um die aufsteigende Angst zu verscheuchen.
    »Du gehst, du bist frei«, sagte der Bucklige. Er sprach ein verballhorntes Deutsch und rollte das R.
    McKenzie konnte auf Deutsch einen Hamburger bestellen, eine Fahrkarte in einem Reisezentrum kaufen oder Passanten nach dem Weg fragen. Mit einem guten Wörterbuch konnte er wissenschaftliche Arbeiten in deutscher Sprache lesen. Kurz: Sein Deutsch war äußerst entwicklungsfähig. Von dem verwaschenen Satz des Buckligen verstand er nur ein Wort.
    »Frei?« Sein Herz stolperte; etwas Heißes löste sich hinter seinem Brustbein und plumpste in seine Gedärme. »Was sagst du? Frei?«
    »Bist frei.« Der Bucklige bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung
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