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034 - Der Weg nach Westen

034 - Der Weg nach Westen

Titel: 034 - Der Weg nach Westen
Autoren: Jo Zybell
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schmeckte. Er hatte es trotzdem getrunken, und es hatte ihm damals ein Gefühl wie von Watte in den Gliedern geschenkt. Und stundenlangen Schlaf, tief und traumlos.
    Was auch immer das für eine Welt sein mochte, in der er gelandet war wenn sie noch Rauschmittel kannte, konnte sie so ganz fremd nicht sein.
    Über dem sechsten Fünferblock war ein verwackelter Halbkreis eingeritzt am vierunddreißigsten Tag hatte der Mann mit Bewegungsübungen begonnen und zum ersten Mal wieder seinen verletzten Arm belastet. Über dem dreizehnten Fünferblock war ein L in die Wand geritzt. Nie würde er den fünfundsechzigsten Tag vergessen der Tag seiner ersten drei Liegestützen mit beiden Armen.
    Dann eine aufsteigende Zahlenkolonne über den Strichblöcken: 4, 6, 9, 11 und so weiter die wachsende Anzahl von Liegestützen, die er im Laufe der Gefangenschaft seinem schmerzenden Arm abgetrotzt hatte.
    Und über der zweiundzwanzigsten Fünferkolonne auffällig groß die Ziffer 36 sein Geburtstag. Am hundertneunten Tag seiner Gefangenschaft war er sechsunddreißig Jahre alt geworden. Vorausgesetzt, er war nicht tagelang bewusstlos gewesen, musste der 29. Mai der hundertneunte Tag gewesen sein.
    Der Mann kramte einen Metallknopf aus der Hosentasche. Er hatte ihn von der Brusttasche seines Pilotenanzugs abgerissen, um ihn als
    »Schreibwerkzeug« zu benutzen. Murmelnd zählte er die Striche. »Hundertfünfundvierzig, Mickey«, sagte er schließlich. Er ritzte einen weiteren Strich in die Wand.
    »Also ist heute der hundertsechsundvierzigste Tag. Ziemlich genau einundzwanzig Wochen, Mickey dann müsste heute der vierte Juli sein.« Er ritzte das Datum in römischen Ziffern über den neuen Strich. »Noch kein halbes Jahr, Mickey verdammte Hacke, wir schaffen das…« Niemand antwortete ihm. Nur das vertraute, ge- liebte Gesicht vor seinem inneren Auge lächelte und nickte zustimmend.
    Dafür erklangen Stimmen außerhalb seines Kerkergewölbes. Er lief ans Fenster und lauschte: Schritte und Stimmen, tatsächlich.
    »Das Frühstück, endlich«, murmelte der Mann. Er ging zurück zur Wand. Das Licht des neuen Tages enthüllte jetzt jedes einzelne Zeichen auf ihr: Strichkolonnen, Buchstaben, Zahlen, Worte, mathematische Gleichungen, Namen. Einer vollgeschriebenen Tafel glich die Kerkerwand.
    Wie jeden Morgen ging er zuerst die Namen durch. Er sprach sie laut aus, während er sie las:
    »Mickey McKenzie. John McKenzie. Mary McKenzie. Judith McKenzie…«
    Namen von alten Freunden seiner Kindheitsjahre folgten, von Schulkameraden, Kommilitonen, Lehrern, Professoren und so weiter. Auch Namen von Städten und Universitäten waren darunter: Baltimore, Los Angeles, Berlin, California State University, Harvard University.
    Zuletzt las er die Namen der Menschen, die er erst in den letzten Monaten kennengelernt hatte: Major Bellmann, Hank Williams, Irvin Chester, Jennifer Jensen, Matthew Drax und den Namen seines Chefs, Jacob Smythe.
    All diese Namen waren um einen in Großbuchstaben in die Wand geritzten Namen gruppiert, um seinen eigenen Namen. Den las er zuletzt und lauter als die anderen. »Professor Doktor David McKenzie!« Jede einzelne Silbe betonte er. Als würde er den Ehrengast eines festlichen Symposiums ankündigen, rief er seinen Namen in das Halbdunkel seines Kerkers.
    Auch das ein seit über hundert Tagen geübtes Ritual. Zuerst hatte nur sein eigener Name an der Wand gestanden. Danach die Namen seiner engsten Verwandten. Und Tag für Tag hatten sich neue Namen dazu gesellt. Namen von Menschen, Städten und Orten Punkte eines Koordinatensystems, zwischen denen sich das zerbrechliche Netz seines Lebens ausspannte.
    Er tat das, um sich seiner selbst zu ver- gewissern. Um nicht zu vergessen, wer er war. Um nicht durchzudrehen in dieser Einsamkeit.
    Um nicht den Verstand zu verlieren vor Schmerzen und quälenden Fragen, die Stunde für Stunde sein Hirn überschwemmen wollten.
    »Hey, Mickey, ich bins!«, rief er laut. »Ich bin immer noch David McKenzie, und ich schwörs dir…« Er stutzte. Die Stimmen und Schritte tönten jetzt nicht mehr vor den Fenstern, sondern innerhalb des Gebäudes, in dem sich sein Kerker befand. Irgendwo unterhalb des düsteren Gewölbes.
    Sein Magen knurrte. »Ich habe Hunger, also bin ich«, knurrte er. Er setzte sich im Schneidersitz auf den zerdrückten Strohund Laubhaufen. Erfahrungsgemäß dauerte es von Sonnenaufgang an immer ein paar Stunden, bis sie ihm Wasser und irgendwelche undefinierbaren Früchte
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