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034 - Der Weg nach Westen

034 - Der Weg nach Westen

Titel: 034 - Der Weg nach Westen
Autoren: Jo Zybell
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Vielleicht sogar einen Kometeneinschlag. Aber keinen, der erst fünf Monate zurück lag völlig ausgeschlossen.
    Allein der Samen einer Buche, ausgelegt in einer S-Bahnstation, brauchte mindestens achtzig bis hundert Jahre, um zu einem Baum von der Größe heranzuwachsen, wie er ihn auf dem ehemaligen Bahnsteig gesehen hatte.
    Weiter kam er in seinen Schlussfolgerungen nicht. Ich brauche Informationen, dachte er. Ohne weitere Informationen kann ich dieses Rätsel nicht lösen.
    »Hey, Urluk«, rief er, »du hast wirklich noch nie gehört die Begriffe ›Jet‹ und ›Pilot‹?«
    Der Bucklige drehte sich zu ihm um. »Was ist ›Begriff‹?«
    »Ein Wort…« Dave lief an Urluks Seite.
    »Der Name für ein Ding, für eine Pflanze, ein Gefühl, eine Speise…«
    Das Gespräch mit dem Anführer der kleinen Truppe erwies sich als nicht besonders ergiebig. Immerhin erfuhr Dave, dass er und sein Stamm weder Flugzeuge, noch Autos, noch Fahrräder kannten. Auch bei Worten wie »Geld«, »Regie- rung«, »Schutzbunker« oder »Elektrizität« schüttelte der Bucklige nur stumm den Kopf. Dave stapfte neben ihm her und überlegte, wie er an Informationen kommen könnte. Obwohl er bereits erschöpft war vom Sprechen der ungewohnten Sprache, versuchte er es anders. »Warum ist alles kaputt hier, Urluk, kannst du erklären mir das?«, radebrechte er in Deutsch.
    Urluk zuckte gleichgültig mit den Schultern.
    »War immer so.«
    »Woher du weißt das?«
    »Mein Opa sagte das.«
    »Dein Großvater erzählte dir, diese Stadt sei zerstört gewesen immer schon?« Dave versuchte das Alter des Mannes zu schätzen er legte sich auf Anfang fünfzig fest. »Wie alt bist du?«
    »Zweiunddreißig Winter hab ich gesehen.«
    »Wann ist gestorben dein Großvater?«
    »Vor siebzehn Wintern…«
    Dave rechnete: Viel älter als vierzig, höchstens fünfzig würden diese Leute kaum werden. Wenn Urluks Großvater also fünfzig war, als er behauptete, Berlin sei schon immer zerstört gewesen, musste die Stadt sich seit mindestens siebenundsechzig Jahren in diesem Zustand befinden. Wenn man berücksichtigte, dass die Aussage von Urluks Großvater Augenzeugen ausschloss, die Berlin je anders erlebt hatten, mussten noch einmal zwei oder drei Generationen hinzu addiert werden…
    »Bullshit…«, zischte Dave, als er merkte, dass sich die Katastrophe locker auf über hundertfünfzig Jahre zurückdatieren ließ.
    »Heilige Jungfrau es ist doch nur fünf Monate her…« Noch einmal nahm er Anlauf. »Aber warum, Urluk, warum ist alles kaputt? Haben eure Großeltern nie einen Grund dafür genannt?«
    »Kristofluu.« Nur dieses eine Wort sprach Urluk aus. Er winkte die Gruppe hinter sich von der Schneise weg in den Wald hinein, weil ein hoher Trümmerhaufen den Weg versperrte.
    Dave blieb stehen. Kristofluu… Er ließ sich das Wort im Hirn zergehen. »Klingt ein bisschen wie ›Christopher-Floyd‹«, murmelte er. »Was meinst du, Mickey? Reiner Zufall oder nicht…?« Er schüttelte den Kopf. »Cool bleiben, ganz cool…«
    Das Unterholz hatte die meisten der Männer längst verschluckt. Vier standen noch rechts und links von ihm und warteten darauf, dass er weiterging. Einer von ihnen übernahm die Führung. Mit seinem Holzprügel bog er das Buschwerk zur Seite. Dave bückte sich und drang in den Urwald ein. Sie kletterten durch die Trümmer eines Hauses und stiegen über das umgekippte Wrack eines Omnibusses.
    Nach etwa hunderfünfzig Schritten ging es wieder zurück auf die Schneise die zugewucherte Stadtautobahn. Im Gebüsch am Waldrand griff Dave zufällig nach einem starken moosbedeckten Ast, der sich weder nach oben noch nach unten biegen ließ. Auch fühlte er sich überraschend starr an. Dave untersuchte ihn genauer ein schräg aus dem Waldboden ragender Metallpfosten. An seiner Spitze prangte ein armlanges Rechteck. Dave kratzte Moos und Efeuranken ab.
    Buchstaben wurden sichtbar ein P, ein O, ein T, ein S…
    »Potsdamer Straße«, las Dave murmelnd.
    »Unglaublich…« Er taumelte aus dem Buschwerk zurück auf die Schneise.
    Vor sechs Monaten, im Januar, war er in einem Taxi über diese Schneise gefahren. Die Potsdamer Straße war keine Autobahn, es war die Bundesstraße l. Vor sechs Monaten hatten noch Hausfassaden, Straßenlaternen, Postämter, Bushaltestellen, Kioske und Parkanlagen die B l im Bereich von Berlin Mitte gesäumt…
    Schwindel erfasste ihn. Wieder blieb er stehen. Er blickte sich um Urwald und Ruinen, so weit das Auge blickte.
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