Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
020 - Die Blutgraefin

020 - Die Blutgraefin

Titel: 020 - Die Blutgraefin
Autoren: Hugh Walker
Vom Netzwerk:
bedeutet. Das Bild verschwamm vor meinen Augen, und ich sah Gerti vor mir – ganz bleich, mit geschlossenen Augen …
    Sie war triefend nass und eiskalt, als ich sie berührte – sie war tot! Dann verschwand das Bild wieder, aber ich zitterte am ganzen Körper, als ich ihr auf Wiedersehen sagte. Ich weiß noch, dass ich den ganzen Weg nach Hause gelaufen bin, solche Angst hatte ich. Ich nahm mir nicht einmal Zeit, am Froschteich stehenzubleiben, um die Fische zu beobachten, was ich sonst auf dem Heimweg immer tat. Zu Hause merkte ich, dass ich ein wichtiges Buch bei ihr vergessen hatte, das ich für die Hausaufgaben dringend benötigte. Aber mir steckte der Schreck noch zu sehr in den Gliedern. Ich konnte einfach nicht mehr zurücklaufen.
    Am nächsten Tag war Gerti nicht im Bus. Erst am Nachmittag erfuhr ich von dem schrecklichen Unglück. Sie hatte, ebenso wie ich, bemerkt, dass ich das Buch vergessen hatte, und sie war nach dem Abendessen losgelaufen, um es mir zu bringen. Im Gegensatz zu mir hatte sie am Teich angehalten und wohl den Fischen zugesehen. Am schlüpfrigen Ufer muss sie ausgerutscht sein …«
    Unwillkürlich schauderte ich bei seinen Worten.
    »Das war das erste Mal, dass ich etwas sah, bevor es sich wirklich ereignet hatte. Ich sah sie deutlich vor mir. Als Tote –
    als Ertrunkene, zu einem Zeitpunkt, da sie noch lebte. Solche Dinge passieren mir immer wieder.«
    Ich war nie abergläubisch, aber das, was er mir erzählte, beeindruckte mich so tief, dass ich spontan und mit angehaltenem Atem fragte: »Und das Haus? Was hast du eben im Haus gesehen?«
    »Ich bin nicht sicher. Ich begehe manchmal Fehler in der Interpretation der Bilder.« Er schüttelte hilflos den Kopf. Doch nach einem Augenblick sagte er entschieden: »Es sah alles so aus, als stünde das Haus nicht mehr, Freddie.«
    »Wie soll das möglich sein?« fragte ich überrascht.
    Er zuckte die Schultern. »Tut mir leid, da bin ich überfragt.«
    Daraufhin schüttelte ich den Kopf. »Es ist Spinnerei«, stellte ich fest.
    »Ich wollte, es wäre so«, sagte er ernst.
    Ich empfand Unglauben und eine unbestimmte Furcht.
    Glücklicherweise war diese Furcht stark genug, dass sie mich davon abhielt, Friedels Unkerei zum Trotz in das Haus zurückzukehren.
    »Wann?« fragte ich stattdessen nur.
    »Das weiß ich nicht. Aber es war sehr nah.«
    Wie sehr das stimmte, bewies uns eine laute Detonation, die während dieser Worte den Erdboden erbeben ließ und von einem donnernden Geräusch begleitet war, als stürzte eine Lawine zu Tal. Eine Autohupe kreischte. Dann war einen Augenblick Stille – von jener beklemmenden, unheildrohenden Art.
    Als die Geräusche wiederkamen, so als hätte die Welt nur Atem geholt, stürzten wir beide los. Es gab keinen Zweifel über die Richtung. Wir erreichten die Kreuzung und hielten keuchend inne. Eine dichte Wolke von Kalk- und Mörtelstaub nahm uns die Sicht. Überall waren hastende, rufende Menschen, und von irgendwo in dem Chaos kamen Schmerzensschreie und Hilferufe.
    Ich habe diese Bilder deutlich vor Augen. Es sind solche Erinnerungen, die sich mir für das ganze Leben einprägten, so sehr ich sie auch manchmal abzuschütteln versuchte.
    Als sich der Staub endlich verzog, sahen wir statt des Hauses, in dem ich wohnen sollte, eine Ruine vor uns. Später erfuhr ich auch, wie es geschehen war. Eine Gasexplosion hatte das erste Stockwerk zerstört, und die übrigen acht Stockwerke darüber waren einfach zusammengeklappt. Es gab über vierzig Tote, darunter auch die freundliche Frau Bärmann.
    Freilich fragte ich mich immer wieder, ob es möglich gewesen wäre, diese Menschen zu warnen. Aber ich war ja selbst ein typisches Beispiel für die Trägheit des Unglaubens.
    Wäre Friedel nicht mein Freund gewesen und hätte mich mehr oder minder mit Gewalt aus dem Haus geschafft – ich glaube nicht, dass ich damals das Haus verlassen hätte, wenn einer dahergekommen wäre und hätte verkündet, er spüre es ganz deutlich, dieses Haus werde in Kürze einstürzen.
    Es ist einfach zu absurd. Vorahnung und Vorschau muss dem nüchternen Menschen etwas Inakzeptables sein, weil er sonst wahrscheinlich auch als logische Folgerung zugestehen müsste, was kein freier Geist je zugesteht: dass die Zukunft vorgezeichnet ist, und dass es kein Entrinnen gibt.
    Ich habe mir ebenfalls im Laufe der Jahre eine Theorie zusammengebastelt. Ich glaube, dass Freiheit und Vorbestimmung sich vereinbaren lassen. Es scheint mir wie die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher