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02_In einem anderen Buch

02_In einem anderen Buch

Titel: 02_In einem anderen Buch
Autoren: Jasper Fforde
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heute schien er mir anders.
    Zum ersten Mal sah er alt aus. Vielleicht achtzig, vielleicht sogar
    mehr.
    Er schob seine Hand in den Behälter mit den Nanomaschinen, und im selben Augenblick versagte das letzte Stromaggregat. Der kleine Klumpen Nanotechnologie fiel in seine Hand,
    während das schwache Abendlicht uns in dämmriges Licht
    tauchte.
    »Das Zeug fühlt sich kalt an«, sagte er. »Wie viel Zeit bleibt
    mir?«
    »Es muss erst warm werden«, sagte Wilbur trübsinnig. »Drei
    Minuten vielleicht?«
    »Tut mir leid, meine kleine Kichererbse«, sagte mein Vater.
    »Aber Selbstaufopferung ist keine Lösung.«
    »Es war der letzte Ausweg, Daddy. Entweder ich allein oder
    ich und drei Milliarden andere Menschen.«
    »Nicht du musst diese Entscheidung treffen, mein Schatz,
    sondern ich. Du hast noch viel Arbeit vor dir, und dein Sohn
    auch. Ich bin ganz froh, dass es endet, ehe ich so schwach
    werde, dass ich niemand mehr nutze.«
    »Daddy –!«
    Ich spürte, wie mir die Tränen übers Gesicht liefen. Da war
    noch so viel, was ich ihn fragen wollte. Es bleiben ja immer so
    viele Fragen.
    »Es ist mir jetzt alles so klar!« sagte er lächelnd und schloss
    seine Hand, damit von der alles verzehrenden Supertraumsoße
    nichts auf den Boden tropfen konnte. »Nach einigen Millionen
    Jahren des Daseins ist mir endlich der Sinn klar geworden.
    Würdest du bitte deiner Mutter sagen, dass absolut nichts
    zwischen mir und Emma Hamilton war?«
    »Oh, Dad! Bitte, tu's nicht!«
    »Und sag Joffy bitte, dass ich ihm nicht mehr dafür böse bin,
    dass er damals die Scheiben vom Treibhaus kaputtgemacht
    hat.«
    Ich nahm ihn fest in die Arme.
    »Ihr werdet mir fehlen. Du, deine Mutter, Sévé, Louis Arm-strong, die Nolan Sisters – ach, übrigens, hast du Karten gekriegt?«
    »In der dritten Reihe – aber wie es aussieht, wirst du sie womöglich gar nicht mehr brauchen?«
    »Ach, das kann man nie wissen«, murmelte er. »Die sollen
    meine Karte an der Abendkasse für mich zurücklegen, ja?«
    »Aber, Daddy, es muss doch etwas geben, was wir für dich
    tun können!«
    »Nein, mein Schatz. Ich werde mich wohl bald dünn machen.
    Der Große Sprung nach vom, sozusagen. Die Frage ist nur,
    wohin? War da irgendwas in der Supertraumsoße, was nicht
    hineingehört?«
    »Chlorophyll.«
    Er lächelte und schnupperte an der Nelke in seinem Knopfloch. »Ja, das dachte ich mir. Es ist eigentlich alles ganz einfach
    – und äußerst genial. Chlorophyll ist der Schlüssel – au!«
    Ich warf einen Blick auf seine Hand, wo sich Haut und
    Fleisch zu drehen begannen, als die aufgetauten Nanomaschinen ihre Arbeit begannen und sich mit wachsender Geschwindigkeit in ihn hineinfraßen.
    Ich starrte ihn an. Hunderte von Fragen fielen mir ein, die
    ich ihm noch stellen wollte, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.
    »Ich gehe jetzt drei Milliarden Jahre zurück, Thursday, als es
    auf unserem Planeten noch kein Leben gab. Als er noch auf
    jenes Wunder wartete, das, soweit wir wissen, noch nirgendwo
    sonst im Universum geschehen ist: die Photosynthese. Eine
    sauerstoffreiche Atmosphäre, meine kleine Kichererbse – die
    ideale Voraussetzung für eine Biosphäre in statu nascendi.«
    Er lachte.
    »Schon merkwürdig, wie sich die Dinge entwickeln, nicht
    wahr? Alles Leben auf der Erde ist also aus den organischen
    Bestandteilen in der Supertraumsoße entstanden, aus Kohlehydraten und Eiweiß.«
    »Und aus deiner Nelke und dir.«
    Er lächelte. »Ja. Aus mir. Ich dachte, das wäre womöglich das
    Ende. Das große Finale. Aber in Wirklichkeit ist es der Anfang.
    Und der bin ich. Ausgerechnet. Macht einen irgendwie – demütig.«
    Er streichelte mit seiner unversehrten Hand mein Gesicht
    und küsste mich auf die Wange. »Nicht weinen, mein Schatz. So
    geht's halt. So ist es immer gegangen und so wird's immer
    gehen. Nimm dir meinen ChronoGraphen, den werde ich nicht
    mehr brauchen.«
    Während ein immer stärker werdender Erdbeergeruch das
    Labor erfüllte, löste ich das Armband von seiner Hand. Daddys
    andere Hand hatte sich inzwischen fast völlig in Pudding verwandelt. Es war höchste Zeit, dass er sich auf den Weg machte,
    und das wusste er auch.
    »Leb wohl, Thursday. Ich hätte mir keine bessere Tochter
    wünschen können.«
    Ich versuchte, meine Fassung zurückzugewinnen. Ich wollte
    nicht, dass seine letzte Erinnerung an mich ein Häufchen Elend
    war, das hemmungslos heulte. Ich wollte ihm zeigen, dass ich
    genauso stark sein konnte wie er.
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