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0068 - Die Geisternacht

0068 - Die Geisternacht

Titel: 0068 - Die Geisternacht
Autoren: Hans Wolf Sommer
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geleitete sie in den moscheeartigen Aufbau, der die Plattform beherrschte.
    Es ging einen von Fackeln erleuchteten schmalen Korridor entlang und endete in einem mit verschwenderischer Pracht ausgestatteten Raum. Gold und Geschmeide, kunstvolle Stein- und Holzschnitzereien, phantastischer Federschmuck und verblüffend echte Obsidianfiguren überall. Im Mittelpunkt des Raums stand ein extrem niedriger Tisch, mit weißen Tüchern bedeckt. Kreisförmig um diesen Tisch gruppierten sich diverse bestickte Sitzkissen.
    Unaufgefordert, wie es sich für einen hohen Herrn geziemte, setzte sich Zamorra auf eins der Kissen. Pizana tat es ihm nach. Erst nachdem die beiden saßen, nahm auch der Priester Platz.
    Zamorra fühlte seine dunklen, nahezu schwarzen Augen auf sich ruhen. Röntgenaugen, die bis auf den Grund seiner Seele zu blicken schienen.
    Der Priester sprach jetzt wieder, mit sonorer, angenehmer Stimme.
    Anschließend machte der Indianer wie gehabt den Übersetzer.
    »Er sieht es als hohe Ehre an, dass der Sendbote Quetzalcoatls ausgerechnet in den Tempel von Amecameca gekommen ist. Und er wird alles tun, um sich dieser Ehre würdig zu erweisen.«
    Im ersten Augenblick war der Professor sprachlos. Dann aber verstand er plötzlich.
    Quetzalcoatl war dem Ursprung nach kein aztekischer Gott. Die ›Grünfederschlange‹ war der Hauptgott der Tolteken gewesen, die eine ganze Reihe von Jahrhunderten vor den Azteken weite Teile von Mittelamerika beherrscht hatten. Die Gottheit war dann später von allen Völkern übernommen worden, die nach den Tolteken kamen. Zahlreiche Legenden rankten sich um die Person Quetzalcoatls. Eine davon besagte, dass er einst in menschlicher Inkarnation auf der Erde geherrscht hatte. Und der Witz bei der Sache war, dass er in dieser menschlichen Inkarnation ein Mann von weißer Hautfarbe gewesen sein sollte.
    Zamorra konnte sich jetzt gut in den Priester hineindenken. Menschen weißer Hautfarbe waren ihm und seinen Landsleuten unbekannt. Ganz klar, dass der Mann bei seinem Anblick sofort an seinen Gott gedacht hatte. Zamorra und sein Diener waren in Bedrängnis zum Tempel der Grünfederschlange gekommen. Und der weiße Mann hatte es geschafft, dem Höllenfeuer der Jünger Tezcatlipocas zu widerstehen. Konnte der Priester also noch daran zweifeln, dass die Kraft Quetzalcoatls in Zamorra schlummerte?
    So musste es sein. Der Priester hielt ihn für einen Abgesandten seines Gottes. Deshalb auch seine Ehrerbietigkeit, seine wahrscheinlich höchst uncharakteristische Unterwürfigkeit.
    Der Professor frohlockte innerlich. Es musste doch möglich sein, aus dieser Fehleinschätzung Kapital zu schlagen.
    Nur eins musste den Priestern eigentlich misstrauisch machen. Die Tatsache nämlich, dass der Sendbote seines Gottes offenbar nicht in der Lage war, unmittelbar zu ihm zu sprechen, da er der Landessprache nicht mächtig war.
    Er trug seine diesbezüglichen Bedenken Tizoc Pizana vor. Aber der Indianer beruhigte ihn.
    »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Señor«, sagte er. »Viele Tlatoani sprechen nicht unmittelbar mit ihren Untergebenen. So etwas ist unter ihrer Würde. Sie bedienen sich eines speziellen Sprachrohrs. Und in diesem Fall bin ich Ihr Sprachrohr. Verstehen Sie?«
    Der Professor verstand. Starre Rangordnungen, wie sie in dieser Zeit hier gang und gäbe waren, hatten dann und wann durchaus ihre Vorteile.
    »Gut«, meinte er. »Dann sagen Sie meinem Untergebenen mal, dass ich eine ganze Reihe von Wünschen habe.«
    Pizana übersetzte und übermittelte anschließend die Antwort des Priesters: »Er würde sich glücklich schätzen, Ihre Wünsche erfüllen zu dürfen. Außerdem möchte er gerne wissen, wie er Sie nennen darf.«
    »Ab und zu kann man ja auch mal bei der Wahrheit bleiben«, antwortete der Professor. »Sagen Sie ihm ruhig, dass er mich Zamorra nennen soll.«
    Der Indianer kam der Anweisung sofort nach.
    Fast andächtig formte der Weißgewandete anschließend den Namen des ›Sendboten‹ mit den Lippen: »Zamo… a!«
    Eine plötzliche Erkenntnis durchzuckte den Professor. Es bereitete dem Priester große Schwierigkeiten, seinen Namen richtig auszusprechen. Der Buchstabe ›R‹ war ihm ungewohnt. Wenn man an den so verstümmelten Namen noch die Nahuatl-Bezeichnung für ›Herr‹ ansetzte…
    Xamotecuhtli!
    Es gehörte wirklich nicht viel Phantasie dazu, sich die Entstehung dieses Namens vorzustellen.
    Unbestimmte Ahnungen ergriffen Besitz von ihm. Und diese Ahnungen
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