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005 - Tagebuch des Grauens

005 - Tagebuch des Grauens

Titel: 005 - Tagebuch des Grauens
Autoren: D.H. Keller
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im gleichen Augenblick bleibt auch der Schatten vor mir stehen.
    Die Angst schnürt mir plötzlich die Kehle zusammen.
    Der Schatten sieht aus wie die schemenhafte Gestalt eines Menschen. Wesenlos, dunkel, drohend schwebt er vor mir her. Manchmal ist er fast verblasst, und ich glaube, dass er nicht mehr da sei, dann sind seine Konturen wieder ganz deutlich.
    Ich spüre, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft.
    Ist es Michel?
    Ja, er ist es. Wer sollte mich sonst auf so gespenstische Weise begleiten?
    Jetzt wird der Schatten genauer erkennbar. Ich bin fest davon überzeugt, dass es sich um Michel handelt. So wie ich erst nur seinen Mund, dann nur seine Hand gesehen habe, ist er nun vollständig vorhanden, um mich zu verfolgen.
    Ich weiß, was er vorhat. Es ist mir klar. Er will mich umbringen.
    Ja, Michel will sich rächen.
    Aber ich werde mich wehren. Er wird kein leichtes Spiel mit mir haben.
    Doch wie soll ich mich verteidigen? Wie soll sich ein Mensch gegen ein Gespenst zur Wehr setzen? Mit welchen Waffen kämpft man gegen das Übersinnliche, gegen einen Toten, der gekommen ist, um Rache zu nehmen?
    Ich setze meinen Weg fort.
    Mein rechtes Auge ist fast wieder in Ordnung. Ich sehe schon wieder recht gut damit. Es scheint sogar mehr zu sehen als mein gesundes Auge. Wenn ich zum Beispiel das linke schließe, sind die Konturen des Schattens, der vor mir dahinschwebt, sehr viel deutlicher. Dann sehe ich das Gespenst viel klarer als zuvor mit beiden Augen.
    Es scheint fast, als sei das Auge, nachdem es die Geisterhand berührt hat, bereits den übersinnlichen Erscheinungen besser aufgeschlossen als das andere. Als könne es Dinge sehen, die für einen gewöhnlichen Sterblichen nicht wahrnehmbar sind.
    Ich will mich beeilen. Mein Haus ist nicht mehr fern. Heute ist die Nacht, die schicksalhafte Nacht, in der Suzanne »gehen« soll.
    Nein, doch nicht. Ich habe mich geirrt. Die Nacht, in der sie sterben soll, ist erst morgen.
    Morgen ist die Nacht, in der die Entscheidung fällt.
     

     
    Als ich ins Schlafzimmer komme, schläft Suzanne fest. So gut hat sie seit Wochen nicht mehr geschlafen. Sie muss völlig erschöpft gewesen sein. Es tut mir wohl, sie so entspannt und von keiner Angst gepeinigt schlummern zu sehen. Seit dem 4. Januar hat sie keine so friedvolle Ruhe mehr gefunden.
    Ich bin überzeugt davon, dass Michels Tod Suzanne diesen Frieden geschenkt hat. Meine Tat hat ihr das Leben gerettet, daran zweifle ich jetzt nicht mehr.
    Ich trete zu ihr und blicke auf sie herab. Dann streiche ich ihr sanft über die Stirn. Unter meinen Fingern fühle ich eine Ader an ihrer Schläfe klopfen. Langsam und regelmäßig pulsiert das Blut in ihren Adern.
    Unwillkürlich drehe ich mich um. Mein Blick heftet sich an die gegenüberliegende Wand. Dort habe ich die Zähne gesehen, den gespenstischen Mund. Ich fürchte, dass sie jetzt erneut erscheinen werden, um mich mit Grauen zu erfüllen.
    Doch nein. Nichts ist zu sehen.
    Vielleicht kann ich jetzt auch etwas schlafen. Auch ich sehne mich nach Ruhe. Ich bin erschöpft, bin vollkommen am Ende meiner Kräfte. Schlafen … alles vergessen können, das ist es, wonach ich mich sehne.
    Im Erdgeschoß schlägt die Standuhr die vierte Stunde.
    Mir fallen die Augen zu. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.
    Plötzlich spüre ich eine Gegenwart im Raum. Jemand ruft mich: »Pierre!«
    »Wer ist da?« Ich sehe mich um. Wer spricht mit mir?
    Die Nachttischlampe brennt. Wenn sie nur nicht ausgeht! Ich fürchte die Dunkelheit. Die Dinge, die mich verfolgen, haben Angst vor dem Licht. Ich muss darauf achten, dass ich nie im Dunkeln bin.
    Da! Er ist wieder da – der Mund. Auch die Zähne sind da, die grauenvollen Zähne in dem grinsenden Mund.
    Ein teuflisches Lachen schallt durch das Haus. Und Suzanne? Hört sie denn nichts? Friedlich liegt sie da und schläft, als sei überhaupt nichts geschehen.
    Der Mund nähert sich langsam. Der gespenstische Mund, der frei im Raum schwebt, kommt auf mich zu. Er fährt auf meine Augen zu.
    Mit einer heftigen Bewegung versuche ich ihn abzuwehren. Dabei stoße ich die Lampe vom Nachttisch. Klirrend fällt sie zu Boden und erlischt. Es herrscht völlige Dunkelheit im Zimmer. Undurchdringlich ist die Finsternis, die mich umgibt. Nicht einmal die Umrisse der Möbel sind zu erkennen.
    Ich will um das Bett herumgehen, um die Nachttischlampe auf Suzannes Seite anzuzünden. Plötzlich höre ich ein Keuchen neben mir. Etwas berührt mein
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