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005 - Tagebuch des Grauens

005 - Tagebuch des Grauens

Titel: 005 - Tagebuch des Grauens
Autoren: D.H. Keller
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herauf. Die Sonne ging auf. Es ist sehr kalt, aber nicht mehr windig.
    Heute wird man Michel begraben. Ich will mit eigenen Augen sehen, wie man ihn in der Erde versenkt.
    Suzanne erwacht und lächelt mich an. Sie scheint glücklich zu sein. Trotz ihrer bleichen Wangen und ihrer Magerkeit ist sie immer noch hübsch.
    »Ich habe mich schon seit langem nicht mehr so ausgeruht gefühlt«, sagt sie.
    »Das glaube ich.«
    »Heute Nacht habe ich nicht einmal geträumt.«
    Warum sagt sie das? Erinnert sie sich wirklich an nichts mehr, oder will sie mir nur die Wahrheit verbergen?
    Doch das ist nicht wichtig.
    Ich führe sie in die Küche hinunter. Sie setzt sich in ihren Sessel, während ich Feuer mache.
    Von der Dorfkirche hört man Glockenläuten.
    »Es ist jemand gestorben«, sagt Suzanne leise.
    Weiß sie nicht, dass es Michel ist, überlege ich.
    Regungslos sitzt sie da, mit geschlossenen Augen. Die Hände hält sie dem Feuer entgegen.
    Wird Suzanne wirklich heute Nacht sterben?
    »Irgendwann musst du auch mal ein wenig an die frische Luft gehen«, sage ich. »Wenn die Sonne scheint, an einem der nächsten Tage.«
    »An einem der nächsten Tage?« wiederholt sie mit seltsamer Stimme.
    »Ja, warum denn nicht?«
    In ihrem Blick flammt plötzlich etwas auf, erlischt aber gleich wieder, wie von einem Schleier verhüllt.
    »Ja, du hast recht«, sagt Suzanne.
    Aber ihre Worte klingen nicht sehr überzeugt. Sie will mir nur keinen Kummer bereiten.
    Dann versinkt sie wieder in ihr gewohntes Schweigen.
    Um elf Uhr gehe ich unter einem Vorwand weg. Sie stellt mir auch keine Fragen. Es wundert sie nicht, dass ich ausgehe. Vielleicht weiß sie, dass ich an der Beerdigung teilnehme.
    Sie sieht mir nicht einmal nach, als ich die Küche verlasse.
     

     
    Der Totengräber schraubt gerade den Sargdeckel zu, als ich bei Michels Haus ankomme.
    Ich atme auf. Der Mensch, der mir so viel Böses angetan hat, kann endlich nichts mehr gegen mich ausrichten.
    Mit seinem Gehilfen lädt der Totengräber den Sarg auf einen Karren, der vor dem Haus wartet.
    Er schnalzt mit der Zunge, und das Pferd setzt sich in Bewegung.
    Nach einem kurzen Halt an der Kirche kommen wir auf dem Friedhof an. Das Grab ist tief.
    An zwei Seilen wird der Sarg hinuntergelassen. Bald hat er den Boden des Loches erreicht.
    Aber warum wird das Loch nicht zugeschüttet? Mir wäre es lieber, wenn man damit nicht warten würde.
    Doch der Totengräber schickt sich an, den Friedhof zu verlassen. Ich halte es nicht aus und folge ihm, um mit ihm zu sprechen.
    »Sagen Sie, warum schütten Sie das Grab denn nicht zu?«
    »Keine Angst, der läuft nicht davon.«
    »Was wollen Sie damit sagen?« frage ich.
    »Na, wenn einer erst mal in diesen vier Wänden liegt, kommt er nicht mehr heraus.«
    »Aber sollte man nicht …«
    »Das hat Zeit bis morgen. Bei der trockenen Witterung kann ja nichts passieren.«
    Der Totengräber fährt mit seinem Wagen davon. Ich bleibe noch eine Weile auf dem Friedhof. Es drängt mich, die Schaufel zu ergreifen, die auf dem Haufen loser Erde liegt, und selbst die Arbeit zu tun.
    Ich blicke auf den Sarg hinab. Es scheint mir, als rege sich dort etwas. Ein wenig Erde verrutscht.
    Ich kann der Versuchung kaum noch widerstehen, das Loch zuzuschütten.
    Ich muss gehen. Wenn ich noch länger bleibe, kann ich für nichts garantieren.
    Plötzlich höre ich seltsame Geräusche – ein Wispern, ein Flüstern …
    Aber ich bin doch allein. Niemand ist da.
    Ich werfe noch einen letzten Blick auf den Sarg, dann gehe ich zum Ausgang. Die Tür ist aus Schmiedeeisen. Als ich gerade meine Hand auf die Klinke legen will, fahre ich zurück.
    Einen Augenblick lang habe ich dort andere Finger gesehen.
    Ich zögere eine Weile, bis ich erneut nach der Klinke greife. Vermutlich habe ich mir diese Erscheinung nur eingebildet.
    Und dann höre ich ein teuflisches Lachen hinter mir.
    Soll ich das linke Auge schließen? Ich schaudere. Mit dem rechten Auge allein sehe ich ganz deutlich die verfluchten Zähne vor mir in der Luft schweben.
    Und der Mund lacht, er lacht, dass es mir ins Herz schneidet.
    Jetzt habe ich auch das andere Auge geöffnet und sehe weiter nichts als den Friedhof mit seinen etwas verwahrlosten Gräbern und seinen Kreuzen, die zum Teil schon windschief stehen.
    Michel befindet sich in bester Gesellschaft.
    Ja, richtig! Der Gedanke kommt mir jetzt zum ersten Mal:
    Suzanne wird neben ihm liegen.
    Suzanne! Mir tut das Herz weh. Übermorgen um die Zeit werde ich
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