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005 - Tagebuch des Grauens

005 - Tagebuch des Grauens

Titel: 005 - Tagebuch des Grauens
Autoren: D.H. Keller
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auf die Brust. Ihr Herz schlägt noch.
    »Lass mich!«
    War das ihre Stimme? Sie schien mir so fremd.
    Die Zeit vergeht langsam, unendlich langsam. Wenn es doch schon morgen wäre!
    Wenn Suzanne morgen früh noch lebt, habe ich das Spiel gewonnen.
    Aber ich glaube nicht daran. Der kleine Hoffnungsschimmer, der in mir aufgelebt war, hat den Stürmen des Zweifels und der Angst nicht standhalten können.
    Denn ich habe Angst. Es hat keinen Zweck, es zu leugnen. Mein Herz schlägt so heftig, dass es mir geradezu weh tut.
    Was soll ich tun? Aufstehen? Umhergehen?
    Beten?
    Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wenn ich beten kann, werde ich vielleicht ruhiger.
    Ich versuche, mich an ein Gebet zu erinnern, aber mir fällt keines ein.
    Nach einer Weile merke ich, dass die Standuhr im Erdgeschoß nicht mehr schlägt.
    Ich gehe hinunter und stelle fest, dass sie stehen geblieben ist. Aber die Gewichte sind oben. Sie müsste also gehen. Abgelaufen ist sie nicht. Ich setze das Pendel in Bewegung. Nach einigen Ticktacks bleibt die Uhr erneut stehen. Ich versuche es noch mehrere Male, doch es gelingt mir nicht, sie wieder in Gang zu bringen.
    Ich kehre ins Schlafzimmer zurück. Kaum habe ich den Raum betreten, schlägt die Standuhr unten zwölf.
    Aber das ist unmöglich. Sie steht doch, wie soll sie da die Stunde schlagen?
    Suzanne sieht traurig aus. Ihr. Herz schlägt noch. Das lässt mich die Hoffnung noch nicht ganz verlieren.
    Jetzt beginnt sie zu sprechen. Aber ihre Worte sind nicht an mich gerichtet. Ich verstehe sie auch nicht. Suzanne spricht wieder in der seltsamen Sprache, die ich nicht verstehe.
    Ihr Blick ist auf die Wand gegenüber dem Bett gerichtet. Auch ich sehe jetzt dorthin.
    Seltsame verzerrte Formen schweben dort. Sie umkreisen einander, gleiten hinüber und herüber, ohne sich zu berühren oder zu zerfließen.
    Suzanne sieht sie und spricht mit ihnen. Und jetzt sehe ich die Hand erscheinen, die Hand, der ich zwei Verletzungen zugefügt habe. Ich erkenne sie genau.
    Sie springt auf mich zu, noch ehe ich eine Bewegung machen kann, und hält mir den Mund zu. Die Berührung ist eiskalt und erfüllt mich mit Ekel.
    Ich versuche mich von ihr zu befreien, aber es gelingt mir nicht. Wie angewachsen liegt sie auf meinem Mund. Der Schrei des Entsetzens erstirbt in meiner Kehle.
    Eine der undeutlichen Formen kommt jetzt auf Suzanne zu. Die Erscheinung ist kein Skelett, sondern eher eine schemenhafte Gestalt, ein Nebelschleier in der Gestalt eines Menschen.
    Sie beugt sich über das Bett und streichelt Suzanne. Dann neigt sich der Kopf der Erscheinung zu Suzanne hinab und küsst sie. Es ist ein Kuss, der mich mit Grauen erfüllt. Ich schaudere.
    Ich glaube, in Suzannes halb geschlossenen Augen Entsetzen und Qual zu lesen. Suzanne! Wie soll ich ihr nur helfen?
    Jetzt hat sie das Bett verlassen. Sie schwebt durch den Raum, halb umhüllt von der schemenhaften Gestalt.
    Bin ich wahnsinnig geworden? So etwas kann es doch gar nicht geben. Ich träume nur. Ein Alptraum hält meinen Geist umfangen. Ich will erwachen.
    Doch die Hand liegt immer noch auf meinem Mund. Suzanne befindet sich inmitten einer Gruppe von Schemen und stimmt nun mit ihnen zusammen einen seltsamen Gesang an. Er lässt mein Herz in tiefster Qual erbeben.
    Die Schemen beginnen sich durch die Mauer zu entfernen. Auch Suzanne entschwindet meinem Blick – sehr langsam, als wolle sie mir dieses Bild ihres Entschwindens als letzte Erinnerung lassen.
    Ich versuche mit aller Kraft, mich gegen die Hand und die unsichtbaren Kräfte, die mich zurückhalten, zu wehren, um ihr nachzueilen. Umsonst. Ich vermag kein Glied zu rühren.
    Jetzt ist Suzanne verschwunden.
    Die Hand gibt meinen Mund frei. Ich versuche mich zu erheben, doch die Nägel fahren mir durchs Gesicht. Der Schmerz ist so heftig, dass ich auf das Bett sinke.
    Dann schwinden mir die Sinne.
    Ich komme wieder zu mir. Alles ist ganz still um mich her.
    Im Erdgeschoß tickt die Standuhr. Plötzlich geht sie wieder. Alles fällt mir wieder ein. Ich muss mich beeilen und Suzanne zurückholen. Wohin hat man sie entführt?
    Ich taumle die Treppe hinunter. Jetzt bin ich im Freien. Von links schlägt mir der seltsame Geruch entgegen, der mir schon einmal begegnet ist.
    Stolpernd laufe ich in diese Richtung. Ich muss Suzanne finden.
    Die eisige Kälte schneidet mir in die Haut, aber ich achte nicht darauf. Ich laufe weiter.
    Endlich sehe ich vor mir die Erscheinungen. Mit Mühe halte ich ein Triumphgeschrei zurück.
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