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005 - Tagebuch des Grauens

005 - Tagebuch des Grauens

Titel: 005 - Tagebuch des Grauens
Autoren: D.H. Keller
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Nachmittag gehen wir ins Dorf hinunter, um einzukaufen. Schweigend wandern wir auf der Straße dahin. Der Wind lässt uns bis ins Mark erschauern.
    Wir wohnen auf einem großen Bauernhof. Zurzeit leben wir dort allein. Da in dieser Jahreszeit auf den Feldern nichts zu tun ist, gebe ich meinen Hilfskräften immer einen Monat Urlaub, während wir es uns daheim gemütlich machen. Nur wenn unbedingt nötig, verlassen wir das Haus.
    Im Dorf erledigen wir unsere Einkäufe. Und auf dem Hauptplatz treffen wir Michel.
    Auch er ist einkaufen gegangen. Wir begrüßen uns, denn wir sind Nachbarn und außerdem miteinander befreundet.
    Er bewohnt allein ein großes Haus, das etwa einen Kilometer von unserem entfernt liegt. Ich habe mich schon oft gewundert, dass er es so ganz allein dort aushält, aber er hat sich nie über seine Einsamkeit beklagt. Manchmal ziehe ich ihn deswegen auf, und er meint dann, allein zu sein wäre immer noch besser, als in unangenehmer Gesellschaft.
    Hat er vielleicht ein Geheimnis?
    Michel. Ich kenne ihn jetzt seit fünf Jahren. Er ist schweigsam, aber ein angenehmer Nachbar. Bisweilen besuchen wir ihn.
    »Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen«, begrüßt er uns, als wir uns auf dem Hauptplatz treffen. »Kommt doch heute Abend zu mir. Ich habe eine Überraschung für euch.«
    »Was für eine?« frage ich.
    »Das werdet ihr ja sehen. Kommt ihr?«
    Ich frage meine Frau. Sie ist neugierig geworden, weil Michel ein so geheimnisvolles Gesicht macht.
    Wir sagen zu.
    »Also gut, dann bis heute Abend«, sagt er und reicht uns die Hand zum Abschied. Dann entfernt er sich.
    »Seltsam«, sagt Suzanne leise.
    »Wieso?« Ich sehe sie an.
    »Er hat so ein merkwürdiges Gesicht gemacht.«
    Ich habe es nicht bemerkt, weil ich fror und mit Ungeduld das Ende des Gespräches erwartet hatte.
    »Magst du auch wirklich hingehen?« frage ich.
    »Warum denn nicht?«
    Wir betreten das Lebensmittelgeschäft. Während Suzanne einkauft, denke ich an Michel.
    Es ist nichts gegen ihn einzuwenden. Zu Beginn unserer Ehe, vor vier Jahren, war ich ihm gegenüber ein wenig misstrauisch. Er sieht sehr gut aus und ist immer nett zu Suzanne, da wird man natürlich ein bisschen eifersüchtig. Ich habe aufgepasst, aber er hat sich immer tadellos verhalten. Nach einer Weile hatte ich volles Vertrauen zu ihm. Es scheint zu stimmen, was er gesagt hat: dass Frauen ihn nicht interessieren.
    Eine Stunde später kehren Suzanne und ich nach Hause zurück. Ich wärme mir die Hände über dem Kaminfeuer. Suzanne hat Scheite nachgelegt.
    Nach einigen Minuten sind meine Hände endlich wieder warm. Suzanne hat rosige Wangen bekommen. Sie seufzt.
    »Hast du keine Lust, heute Abend zu Michel zu gehen?« frage ich.
    Sie scheint sich selbst nicht darüber im Klaren zu sein. »Ach, warum nicht? Er will uns doch etwas mitteilen.«
    Weibliche Neugier. Dagegen ist nichts zu machen.
     

     
    Es ist acht Uhr. Um sieben haben wir zu Abend gegessen. Ich mache die Laterne zurecht und stecke die Kerze darin an. Die Nacht ist sternenklar. Der scharfe Wind hat alle Wolken weggefegt.
    Unterwegs nimmt Suzanne meinen Arm. In der anderen Hand trage ich die Laterne. Unsere Schatten tanzen neben uns her. Das schwache Licht verhindert, dass wir in Pfützen treten oder über Unebenheiten stolpern.
    Wir schlagen den Abkürzungsweg quer über die Felder ein. Wenn wir dem richtigen Pfad folgen, brauchen wir doppelt so lange. Die Kälte sticht wie mit eisigen Nadeln in unsere Haut. Ich ziehe den Kopf ein. Suzanne hat den Pelzkragen hochgeschlagen.
    Meine Füße sind schon wie Eis. Ich spüre sie nicht mehr.
    Vor uns taucht Michels Haus auf, viereckig wie ein Steinblock. Nirgends brennt Licht. Er hat die Läden geschlossen.
    Aber er erwartet uns. Er weiß ja, dass wir kommen.
     

Seltsam, wie genau ich mich an diesen Gang durch die Nacht erinnere. Und doch ist so viel seitdem geschehen.
    Suzannes Atem hat mich soeben aus meinen Erinnerungen gerissen. Ich liege im Bett, und mir ist kalt.
    Suzanne liegt neben mir, ruhig und entspannt. Aber ich habe den Eindruck, dass ihr Atem schneller geht als normal.
    Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil ich Angst davor habe.
    Neben mir auf dem Nachttisch brennt ein Lämpchen. Es verbreitet nur ein schwaches Licht.
    Suzanne hat verlangt, dass im Zimmer ein Nachtlicht brennt, sei es auch noch so schwach.
    Seit dem 4. Januar fürchtet sie sich vor der Dunkelheit.
    Ich erfülle ihr diesen Wunsch. Eines Nachts habe ich nämlich ein
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