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005 - Tagebuch des Grauens

005 - Tagebuch des Grauens

Titel: 005 - Tagebuch des Grauens
Autoren: D.H. Keller
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unheimlich, und wir sind vor Kälte schon ganz erstarrt. Wir dürfen nicht stehen bleiben.
    Sprechen ist zu anstrengend. Wenn ich den Mund aufmache, nimmt mir der Sturm den Atem.
    Suzanne scheinen der Wind und die Kälte nichts auszumachen. Sie ist sehr zierlich, aber äußerst zäh. Das ist mir noch nie so klar zum Bewusstsein gekommen wie in diesem Augenblick.
    Ich sehe Suzanne von der Seite an. Sie blickt zu Boden. Ich merke, dass sie intensiv nachdenkt. Jetzt nähert sie ihren Mund meinem Ohr.
    »Was wird wohl die Überraschung sein?« fragt sie.
    Genau das gleiche habe ich auch gerade gedacht. »Ich weiß es nicht.«
    »Er hat so ein ernstes Gesicht gemacht, als er uns einlud.«
    »Aber er hätte sich auch einen Tag mit besserem Wetter aussuchen können«, erwidere ich.
    Je länger wir unterwegs sind, desto mehr ärgert mich unser Unternehmen. Es wäre vernünftiger gewesen, wenn Michel zu uns gekommen wäre.
    Ich will es Suzanne sagen, überlege es mir dann aber anders. Eine Sturmbö erfasst uns, als wolle sie uns davontragen.
    Alle Naturgewalten sind entfesselt. Soll das vielleicht eine Warnung sein?
    Ich habe keine Kraft mehr zum Nachdenken. Ich muss gegen den Sturm ankämpfen. Es kostet Mühe, ein Bein vor das andere zu setzen. Einen solchen Sturm habe ich noch nie erlebt.
    Suzanne drückt meinen Arm. »Das ist ja unglaublich!«
    Sie meint den Wind. Ich sehe sie an. Ihre Augen blitzen. So habe ich sie noch nie gesehen.
    In der Linken trage ich die Laterne. Sie ist schon längst ausgegangen.
    Noch hundert Meter. Das Haus liegt vor uns. Ich freue mich auf die Wärme, die uns erwartet, und auf das Licht.
    Wir kämpfen uns weiter. Tausend unsichtbare Hindernisse scheinen sich vor uns aufzurichten.
    Endlich haben wir das Haus erreicht. Wir haben den Elementen erfolgreich getrotzt.
    Nur noch ein paar Schritte. Suzanne steht als erste vor der Haustür und schlägt mit der Faust dagegen.
    Ich trete zu ihr. Sie lächelt mich an.
    Drinnen nähern sich Schritte. Die Tür wird geöffnet. Michel steht auf der Schwelle und begrüßt uns.
    »Schnell herein mit euch!«
    Der Hausflur ist dunkel und kalt. Im Hintergrund steht die Tür zur hell erleuchteten Küche offen.
    Im Kamin prasselt ein Feuer. Ab und zu schießt zwischen den Scheiten ein Funkenregen in die Höhe. Hell züngeln die Flammen empor.
    Wir nähern uns und halten die Hände ans Feuer. Meine Wangen schmerzen nun, da das Blut wieder zu zirkulieren beginnt.
    »Ich habe gar nicht geglaubt, dass ihr wirklich kommt«, gesteht Michel.
    »Es war auch ziemlich schrecklich«, bemerkt Suzanne.
    Er lacht. Es ist ein seltsames Lachen.
    Suzanne berührt mit den Händen beinahe die Flammen. Sie zittert am ganzen Leib, aber ihre Wangen sind rot.
    »Es war wirklich ein Abenteuer«, sagt sie.
    Wie zierliche Vögel huschen ihre schmalen Hände durch die Flammen. Man könnte meinen, dass sie das Feuer um die Finger wickelt.
    Draußen heult der Wind um das Haus. Manchmal fährt er in den Kamin, aber es gelingt ihm nicht, die Flammen zu löschen.
    Michel sieht uns an. Kann er sich vorstellen, wie schrecklich der Weg hierher war?
    »Mögt ihr eine Tasse Kaffee?« fragt er.
    Durchfroren wie wir sind, sagen wir begeistert ja. Außerdem kocht Michel einen besonders guten Kaffee.
    Die Kaffeekanne steht bei ihm immer auf dem Herd. Es ist eine alte irdene Kanne.
    Michel füllt die Tassen und stellt eine Flasche Korn auf den Tisch. Die Flasche ist staubig und voller Spinnengewebe.
    Wir trinken den Kaffee. Schon nach dem ersten Schluck Alkohol durchströmt mich wohlige Wärme. Das habe ich auch gebraucht.
    Jetzt hat sich auch unsere Stimmung wieder gebessert. Ich fühle mich ein wenig schläfrig. Deshalb höre ich Michel nur mit halbem Ohr zu, während er über alles Mögliche spricht.
    Suzanne ist neugieriger als ich. Deshalb stellt sie die Frage, die sie schon eine Weile beschäftigt: »Du hast doch gesagt, dass du eine Überraschung für uns hast.«
    »Das stimmt«, erwidert er.
    »Also schieß los. Wir sind ganz Ohr.«
    »Ich muss vorausschicken, dass es eine sehr seltsame Angelegenheit ist. Man kann die Sache eigentlich kaum erklären.«
    Suzanne ist sichtlich gespannt. Auch ich höre zu. Michel scheint mir heute ein wenig eigenartig. Er tut doch sonst nicht so geheimnisvoll.
    In seinen Augen liegt ein merkwürdiges Leuchten. Vielleicht ist es auch nur das Lampenlicht, das sich darin spiegelt.
    Die Müdigkeit, die mich umfangen hält, wird immer stärker. Es ist fast wie eine
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