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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser
Autoren: E. L. Greiff
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darüber hinaus sollte man einen Wanderer auch nicht vom Weg weglocken. Einen Ort wie diesen darf man nicht unbedacht betreten.«
    »Smirn, was ist das für eine Stadt?«
    »Es ist eine Nadhina-Mmet. Eine kwothische Totenstadt.«
4
    Die inzwischen tief stehende Sonne fiel durch ein hohes, mit Mosaiken geschmücktes Portal und blendete Marken. Im Gegenlicht sah er die Fassaden der Gebäude hinter dem großenTorbogen bläulich schimmern, als wären sie mit Wasser benetzt. Die Totenstadt war von einer Mauer umgeben, dies hier schien der einzige Zugang zu sein. Eine sanfte Brise wehte sie aus dem Portal heraus an. Der Windhauch war kühl. Ein kalter Atem, dachte Marken, ein toter Atem. In dieser Stadt bräuchte man wahrlich nicht nach Leben zu suchen. Aber Smirn wollte unbedingt hinein, worum ging es ihr?
    »Gibt es dort eine Quelle?«, fragte Marken.
    »Nein«, antwortete Smirn knapp und wandte sich zum Gehen. Sie ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken, es drängte sie.
    »Strommed, ich begleite die Hohe Frau. Du kümmerst dich um das Nachtlager. Wenn wir zurück sind, ist alles eingerichtet, verstanden?«
    »Verstanden, Herr Offizier!«
    Die Pramer nahmen ebenfalls Haltung an und neben der Erleichterung, nicht mehr weitergehen zu müssen, sah Marken in den verschwitzten Gesichtern die Angst, die zu den Männern zurückgekehrt war. Gut so, dachte Marken, das macht euch wachsam. Er lächelte schmal, drehte sich um und folgte Smirn.
    Die Stadt war wie ein langes, breites Band angelegt, das nach Westen führte. Rechts und links der gepflasterten Hauptstraße standen große Gebäude. Die Häuser der Toten. Sie hatten keine Fensteröffnungen, sondern waren schlichte Quader; nur die torlosen Eingangsportale waren mit glänzenden Steinchen in verschiedenen Blautönen verziert. Sie glitzerten im Licht der sinkenden Sonne. Marken war befremdet von dem Aufwand, den die Kwother mit dem Tod betrieben. Die Welsen verbrannten ihre Toten, und das nicht nur, weil es in Goradt, in Stein und Schnee, das Einfachste war. Nur wer durchs Feuer ging, konnte in die andere Welt gelangen; ein Körper war auf diesem letzten Weg hinderlich. Wie oft hatte Marken sich gewünscht, seinenKörper endlich los zu sein? Diesen Körper, dessen Bedürfnisse er jeden Tag stillen musste oder wenigstens, so gut es ging, unterdrücken. Nicht immer war ihm das gelungen, nicht immer hatte er seine Begierden bezwingen können. Aber er hatte es geschafft, nicht zu verhungern. Er war niemals krank, ihm fielen nicht einmal die Zähne aus. Irgendwann jedoch würde der Tag kommen, an dem sein Körper endlich Ruhe gab. Das Einzige, was dann noch zählte, war das Feuer. Er musste hindurch, damit er sie wiedersehen konnte, in der anderen Welt. Er musste seine Frau um Verzeihung bitten.
    Smirn ging rasch und wie jede Unda beinahe geräuschlos. Ihr silbriges Gewand schimmerte mit den Mosaiksteinen um die Wette, als sie vor einem Gebäude stehen blieb und die geschmückte Fassade emporschaute. Die Kapuze glitt ihr vom kahlen Schädel und Marken sah die verschlungenen Narben darauf blasser werden. Er folgte ihrem Blick. Die Steinchen waren nicht wahllos verteilt, bei näherer Betrachtung ergaben sich komplizierte, aber regelmäßige Muster in der Verzierung.
    »Ist das … eine Schrift?«, fragte er.
    Smirn nickte. »Es ist die Geschichte der Familie, die hier ruht. Genauer: die Geschichte der Männer. Frauen werden nicht in einer Nadhina-Mmet beigesetzt.«
    Er traute sich nicht zu fragen, was mit den Leichen der kwothischen Frauen geschah, und Smirn gab ihm auch keine Gelegenheit dazu. Sie trat ein.
    Das Totenhaus bestand aus nur einem großen Raum. In die hohe Decke waren Lichtschächte eingelassen, durch die die Sonne ihre Strahlen in Bündeln auf mannsgroße, am Boden liegende Steinblöcke schickte: Jeder Block wurde einzeln angeleuchtet. Es war kühl hier.
    »Wir sind zur rechten Zeit angelangt«, sagte Smirn und ihreheisere Stimme hallte in dem hohen, kahlen Raum. »Bei Sonnenuntergang ist es besonders eindrucksvoll.«
    Marken zählte knapp zwei Dutzend hellgraue Steinquader. Er folgte Smirn ins goldgelbe Licht; sie war nah an einen Block herangetreten. In die glatte Oberfläche war eine Inschrift gemeißelt   – die Zeichen waren genauso unergründlich für Marken wie die im Mosaik des Eingangsportals. Smirn aber las konzentriert, ging zum nächsten Quader und las auch dessen Inschrift. Sie schien etwas zu suchen. Marken blickte zum Eingang. Ihm war, als hätte er im
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