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Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Titel: Zwischenspiel: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Maron
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warfen sich die eben noch ausgelassen Feiernden nieder, schlugen ihre Stirnen wieder und wieder gegen den Boden und stießen dabei im Chor verzweifelt klingende Formeln aus. Nur raue Männerstimmen waren zu hören. Die Frauen blieben stumm oder wurden übertönt.
    Ich war so fasziniert von dem Spektakel, dass mir der Mund dabei offengestanden haben muss, denn plötzlich flog mir ein kleines Insekt in den Rachen, wo es kleben blieb und mir einen entsetzlichen Hustenreiz verursachte, der umso heftiger wurde, je angestrengter ich ihn zu unterdrücken suchte. Ich schluckte und würgte, bis mir die Tränen über das Gesicht liefen. Olga klopfte mir kräftig auf den Rücken, was mich zwar ablenkte, aber das Übel nicht beseitigte. Bruno kniff nachdenklich die Augen zusammen, überlegte eine Weile und sagte, wenn er die Situation richtig einschätze, seien die Kerle da vorn im Rahmen gefangen und könnten das Bild nicht verlassen, und ehe ich erstickte, solle ich es auf einen Versuch ankommen lassen. Ich hätte es sowieso nicht länger verhindern können und hustete und krächzte das geflügelte Etwas aus mir heraus. Wir starrten gespannt auf die Männer uns gegenüber, aber nichts geschah. Sie hörten und sahen uns nicht. Ohne diese Erkenntnis hätte ich die folgenden Minuten wahrscheinlich nicht überstanden, ohne in Schockstarre zu verfallen oder von Panik getrieben davonzulaufen. Denn inzwischen hatte sich die Menschenmenge so kollektiv erhoben, wie sie sich vorher zu Boden geworfen hatte, und als würden Schauer von Wut ihre Reihen durchlaufen, reckten die Männer ihre Fäuste in die Luft, die tausend Stimmen vereinten sich zu einem gewaltigen Chor, dirigiert von einem eleganten Herrn in dunklem Anzug, der wie aus dem Nichts in der Szene erschienen war und weder im Auftreten noch in seiner Erscheinung mit den ihm gehorchenden Massen etwas gemein hatte. Immer erregter, immer fordernder skandierte die Masse die immergleichen Worte wie einen Schlachtruf, immer energischer dirigierte der elegante Herr.
    Bruno gab uns zu verstehen, dass wir schweigen sollten, legte, um genauer zu hören, die Hand wie eine Muschel an sein Ohr, schüttelte aber nach fünf oder sechs Wiederholungen der unverständlichen Parole ratlos den Kopf. Das sei weder Französisch, Russisch, Englisch, Chinesisch, Spanisch, Albanisch noch eine andere Sprache, die er identifizieren könne.
    Es klingt wie Krieg, sagte ich.
    Olga, die bis dahin mit gefalteten Händen, an einen Baum gelehnt, etwas vor sich hin geflüstert hatte, unterbrach ihr Gebet und sagte: Sie rufen nach Gott. Ich kenne das Wort. Die Bahai kennen alle Religionen.
    Aber wo ist der Karneval, rief Bruno. Soll das Goyas Blick ins einundzwanzigste Jahrhundert sein? Soll das heißen, alles fängt von vorn an, ein zweiter Versuch ab dem Mittelalter vielleicht? Oder noch früher? Gnädigste, es war wirklich ein unterhaltsamer Tag mit Ihnen. Warum verderben Sie den Spaß mit dieser trüben Aussicht?
    Wir haben die Geräusche doch schon den ganzen Tag über gehört, sagte ich.
    Ja, sagte Olga, es ist schade um die Menschen.
    In dieser Sekunde erlosch auch der letzte schwache Sonnenstrahl, der über den Park gerade noch ein fahles Licht geworfen hatte. Es ist schade um die Menschen, hörte ich noch einmal Olgas Stimme schon ganz aus der Ferne. Ich rief nach Bruno, erwartete aber keine Antwort mehr, denn auch auf der Lichtung rührte sich nichts, als hätte die Dunkelheit all die Menschen lautlos aufgesogen. Ich fand mich allein zwischen Bäumen und Strauchwerk abseits des Weges. Mir war kalt und unheimlich zumute, nichts war zu hören außer dem Knacken und Knistern von dünnem Gehölz und welkem Laub unter meinen Füßen. Nur in meinen Ohren hallte noch das wütende Geschrei der Männer. Wenn das die Zukunft sein soll, du lieber Gott, dachte ich. Langsam tasteten sich meine Augen durch die schattenhafte Landschaft, Zweige griffen nach meinem Gesicht, als wären sie lebendig, ehe ich endlich den Weg fand, der sich wie ein graues Band durch das Dunkel zog. Ein Rascheln irgendwo rechts von mir erschreckte mich, etwas Helles kroch aus dem Gebüsch, rannte auf mich zu und sprang an mir hoch. Nicki. Ich hielt ihn fest, umarmte ihn wie meinen Retter, stammelte vor mich hin: Nicki, Nicki, dass wenigstens du noch da bist, dass wenigstens du wirklich bist, bis Nicki sich aus meiner Umklammerung wand und wieder auf seinen vier Pfoten stehen wollte.
    Los, sagte ich, jetzt wollen wir hier raus.
    Er lief voran,
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