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Never Knowing - Endlose Angst

Never Knowing - Endlose Angst

Titel: Never Knowing - Endlose Angst
Autoren: Chevy Stevens
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1. Sitzung
    Ich dachte, ich käme damit klar, Nadine. Nachdem ich so viele Jahre bei Ihnen war, nachdem ich so oft darüber nachgedacht habe, ob ich meine leibliche Mutter suchen soll, habe ich es endlich getan. Ich habe diesen Schritt gewagt. Ohne Sie wäre es nicht dazu gekommen – ich wollte Ihnen zeigen, wie sehr Sie mein Leben verändert haben, wie sehr ich gewachsen bin, wie stabil ich jetzt bin, wie ausgeglichen. Das ist es doch, was Sie mir immer erklärt haben: »Ausgeglichenheit ist der Schlüssel.« Aber ich habe eine andere Sache vergessen, die Sie auch immer gesagt haben: »Langsam, Sara.«
    Ich habe es vermisst, hier zu sein. Erinnern Sie sich noch, wie unbehaglich ich mich gefühlt habe, als ich zum ersten Mal bei Ihnen war? Besonders, als ich Ihnen sagte, warum ich Hilfe brauchte. Aber Sie waren so normal und witzig – überhaupt nicht so, wie ich mir eine Psychotherapeutin vorgestellt hatte. Diese Praxis war so hell und hübsch, dass ich mich sofort besser fühlte, wenn ich hierherkam, egal, was mich gerade belastete. An manchen Tagen, vor allem am Anfang, wollte ich gar nicht mehr wieder weg.
    Einmal sagten Sie, wenn Sie nichts von mir hören würden, dann wüssten Sie, dass es mir gutgeht, und wenn ich überhaupt nicht mehr käme, wäre das ein Zeichen, dass Sie gute Arbeit geleistet hätten. Und das haben Sie. Die letzten zwei Jahre waren die glücklichsten meines Lebens. Deshalb dachte ich, es wäre der richtige Zeitpunkt. Ich dachte, ich könnte allem standhalten, was sich mir in den Weg stellt. Ich war robust und geerdet. Nichts würde mich wieder in das Nervenbündel verwandeln, das ich war, als ich das erste Mal zu Ihnen kam.
    Doch dann hat sie mich angelogen, meine leibliche Mutter, als ich sie schließlich zwang, mit mir zu reden. Sie hat mich über meinen Vater belogen. Es fühlte sich an wie damals, als Ally mich gegen die Rippen getreten hat, als ich mit ihr schwanger war – ein plötzlicher Schlag von innen, der mir den Atem raubte. Aber was mich am meisten schockierte, war die Angst meiner leiblichen Mutter. Sie
fürchtete
sich vor mir. Ich bin mir ganz sicher. Auch wenn ich nicht weiß, warum.
     
    Es begann vor etwa sechs Wochen, ungefähr Ende Dezember, mit einem Online-Artikel. An jenem Sonntag war ich unsinnig früh wach – mit einer Sechsjährigen daheim braucht man keinen Hahn – und beantwortete E-Mails, während mir der Duft meines ersten Kaffees in die Nase stieg. Inzwischen bekomme ich von überall auf der Insel Anfragen zur Restauration von Möbeln. An diesem Morgen versuchte ich, mehr über einen Zwanziger-Jahre-Schreibtisch herauszufinden, wenn ich nicht gerade über Ally lachte. Eigentlich sollte sie sich unten Zeichentrickfilme anschauen, doch ich konnte hören, wie sie Elch ausschimpfte, unsere gescheckte Französische Bulldogge, weil er ihr Plüschkaninchen belästigt hatte. Ich sollte vielleicht dazu sagen, dass Elch Probleme mit der Entwöhnung hat. Kein Zipfelchen ist vor ihm sicher.
    Dann sprang plötzlich so ein Pop-up-Fenster mit Viagra-Werbung auf, und als ich das endlich wieder zubekommen hatte, klickte ich aus Versehen auf einen anderen Link und sah die Überschrift vor mir:
    Adoption – die andere Seite der Geschichte.
    Ich scrollte mich durch die Leserbriefe, die Leute zu einem Artikel im
Globe and Mail
geschickt hatten, las Geschichten von leiblichen Eltern, die jahrelang versuchten, ihre Kinder zu finden, und von leiblichen Eltern, die nicht gefunden werden wollten. Von Adoptivkindern, die mit dem Gefühl aufwuchsen, niemals irgendwo dazuzugehören. Tragische Geschichten von Türen, die den Leuten vor der Nase zugeknallt wurden. Erfreuliche Geschichten von Müttern und Töchtern, Brüdern und Schwestern, die sich wiederfanden und bis ans Ende ihrer Tage glücklich miteinander waren.
    In meinem Kopf begann es zu pochen. Was wäre, wenn ich meine Mutter fände? Würden wir uns sofort miteinander verbunden fühlen? Was, wenn sie nichts mit mir zu tun haben wollte? Was, wenn ich herausfände, dass sie tot war? Was, wenn ich Geschwister hätte, die nichts von mir wussten?
    Ich hatte nicht mitbekommen, dass Evan aufgestanden war, bis er meinen Nacken küsste und leise grunzte – ein Geräusch, das wir uns bei Elch abgelauscht hatten und jetzt für alles Mögliche benutzten, von
Ich bin stinksauer!
bis
Du bist so scharf!.
    Ich schloss das Fenster und drehte mich mit dem Stuhl um. Evan hob die Augenbrauen und lächelte.
    »Hast du schon wieder mit
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