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Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Titel: Zwischenspiel: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Maron
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gebe es viele Gründe. Eifersucht, Habgier, Neid, Rachsucht, Wahnsinn, defekte Triebsteuerung, Kontrollverlust jeglicher Art. Für Eifersucht, Neid und Rachsucht sähe ich bei ihm kein Motiv, weil uns dafür die Voraussetzungen fehlten. Wenn er es auf mein Telefon oder meine Scheckkarte abgesehen habe, würde ich sie ihm freiwillig überlassen. Ob er aber wahnsinnig oder andersartig dekompensiert sei, könne ich natürlich nicht beurteilen.
    Der letzte Satz hatte ihn getroffen. In seinem linken Auge flammte etwas auf, das Wut oder Kränkung verriet. Aber er hatte geschafft, was er wollte; wir unterhielten uns.
    Aha, sagte er, dekompensiert. Sie meinen, wenn jemand dekompensiert ist, kann man ihn auch wieder kompensieren. Was aber, wenn ich auf eine ganz andere Art kompensiert wäre, auf eine gefährliche? Wenn ein Mensch wie ich als dekompensiert gelten müsste, wäre er in einem Zustand, den Sie für normal, also kompensiert halten? Können Sie mir folgen?
    Er sah mich jetzt mit beiden Augen an, das linke, beweglichere, stand leicht hervor, als drückte etwas von innen gegen den Augapfel. Ich wollte weitergehen, weg von diesem Menschen mit den unheimlichen Augen und dieser monotonen, für einen Mann ungewöhnlich hellen Stimme, die mir widerlicher wurde, je länger ich ihr zuhören musste. Aber mir war vollkommen klar, dass er mich nicht einfach gehen lassen würde. Er würde sich mir in den Weg stellen oder mich sogar am Arm packen, dachte ich.
    Was gucken Sie so entgeistert? Haben Sie mich nicht verstanden?, fragte er gereizt.
    Wahrscheinlich, sagte ich.
    Das habe ich mir gedacht, sagte er, Sie können das gar nicht verstehen, darin liegt das Problem. Also räufeln wir es vom Ende auf: Ich bin böse, ich bin ein böser Mensch, das verstehen Sie doch?
    Sie sagen das so stolz, sagte ich. Ich sprach so leise, dass ich selbst meine Stimme kaum hörte.
    Sieh an, dumm ist sie nicht, sagte er, als spräche er zu einer dritten Person. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich mit seinem linken Auge, während das rechte dunkel und teilnahmslos vor sich hin starrte. Um seinem forschenden Blick zu entgehen, konzentrierte ich mich auf sein dunkles Auge, und in diesem Augenblick fiel mir ein, woher ich diese Augen kannte. Sie gehörten zu einem Bild. Es war in Wien – jetzt erinnerte ich mich genau –, wo ich vor einigen Jahren gebannt vor dem Porträt eines namenlosen Mannes gestanden hatte, dessen Blick mich über die fünf Jahrhunderte, die zwischen seiner und meiner Lebenszeit lagen, durchdrang. Ein bleiches Gesicht, dessen gänzlich verschiedene Hälften ich mir im Wechsel abdeckte und so lange versuchte, das Wesen dieses fremden Vorgängers auf Erden zu ergründen, bis mich das verwirrende Gefühl überkam, ich versenkte mich nicht in ein Bild, sondern begegnete gerade einem leibhaftigen Menschen. Je nachdem, welche Seite seines Gesichts ich betrachtete, konnte ich den Mann für stolz und selbstbewusst halten oder für kalt, sogar kaltblütig, unheimlich vor allem die Augen, deren eines auf mich gerichtet war, das andere aber starr in die Ferne sah, ein dunkler Strahl durch die Zeit bis in unser Jahrhundert oder weiter.
    Aber wie kamen diese verwirrendsten Augen, die ich je gesehen hatte, in den Kopf des Mannes, der mir nun im Park gegenüberstand und mir, indem er von sich behauptete, er sei ein böser Mensch, die Lösung des Rätsels anbot, das jenes Bild in mir hinterlassen hatte. Waren die Menschen wirklich über Jahrtausende ständige Wiederholungen ihrer selbst, nur anders gemischt und verteilt? Das Porträt wurde einem unbekannten französischen Meister zugeschrieben, der Abgebildete war demzufolge wahrscheinlich ein Franzose, der nun in einem bösen Deutschen seinen späten Wiedergänger gefunden hätte. Selbst wenn ich einem solchen Gedanken, der mir bis dahin so ferngelegen hatte wie jeder andere Glauben an ein Leben nach dem Tod, hätte folgen wollen, wäre damit nicht erklärt gewesen, wie dieser unsympathische Mensch in den außergewöhnlichsten Tag meines schon ziemlich langen Lebens geraten konnte. Olga und Bruno gehörten zu meinem Leben; sogar Erich und Margot, weil auch der Gefängniswärter zum Leben eines Häftlings gehört. Aber was hatte dieser nach eigenem Bekenntnis böse Kerl mit mir zu tun?
    Nicki schob seinen Kopf unter meine Hand, und ich fuhr ihm mit den Fingerspitzen mechanisch durch das Fell.
    Sie denken wohl, weil Sie Hunde lieben, sind Sie schon ein guter Mensch, sagte
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