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Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Titel: Zwischenspiel: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Maron
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hätte passieren müssen oder nicht hätte passieren dürfen, damit es um mich nicht schade gewesen wäre. Vielleicht wenn jemand meinem Vater nicht die Lunge zerschossen hätte und er ein gesunder, fröhlicher Vater gewesen wäre, aber dafür hätte er schon gar nicht in den Krieg ziehen dürfen, also schon um meinen Vater war es schade und um meine Mutter, weil sie ihn verloren hat und darum den Sekretär ins Haus holen musste, was wiederum ganz erheblich dazu beigetragen hat, dass es schade war um mich, weil ich vielleicht schon wegen des Sekretärs und des Scharwenzelns meiner Mutter so autonomiesüchtig geworden war und darum so unbegabt für das lebenslange Zusammenleben mit einem Mann, weil ich darum den einen verlassen habe und von dem anderen verlassen wurde, von den übrigen ganz zu schweigen, und weil Fanny darum nicht wusste, wie es war, einen richtigen Vater zu haben, so wie ich es nicht wusste, und es darum nun auch um Fanny schade war. Aber selbst wenn mein Vater nicht in den Krieg hätte ziehen müssen, hätte der Krieg ja doch stattgefunden, es sei denn, der Krieg vor diesem Krieg wäre zu verhindern gewesen, was aber offenbar nicht möglich gewesen war, so dass die Jahrzehnte nach dem Krieg, in dem meinem Vater die Lunge zerschossen wurde, diese Jahrzehnte mit Stalin, Erich, Margot, dem Sekretär, Doro und ihren Genossen trotzdem geworden wären, was sie waren, und das allein hätte vollkommen ausgereicht, es um uns alle schade sein zu lassen.
    Je länger ich über Olgas Lieblingssatz nachdachte, umso auswegloser verfing ich mich in einem klebrigen Spinnennetz aus fremder Schuld und eigener Ohnmacht, um am Ende in einer Woge heißen Selbstmitleids zu versinken und daraus erst wieder aufzutauchen, als Nicki mit beiden Vorderpfoten auf meinen Knien stand und aufgeregt mit langer Zunge mein Gesicht abschleckte.
    Ist gut, Nicki, ich hör ja schon auf, sagte ich und setzte seine Pfoten sanft auf die Erde. Ich wischte mir Nickis Speichel mit einem Taschentuch von den Wangen, kämmte mir die Haare und nahm mir vor, nicht mehr darüber nachzudenken, ob es um mich oder sonst wen schade war, weil es, da es alle Menschen gleichermaßen betraf, die gleiche Ausgangslage, nur auf einer anderen Ebene, schuf und sich dann wieder die Frage stellen würde, wer oder was schuld war an Olgas, Brunos, meinem, Fannys oder sonst jemandes Gewordensein, was ebenso sinnlos war wie die Frage, was hätte geschehen müssen oder nicht hätte geschehen dürfen, damit es um mich nicht schade gewesen wäre.
    Los, sagte ich, wir gehen weiter.
    Ich wusste nicht, wie lange ich schon durch den Park irrte. Die winzigen Zeiger auf meiner Uhr konnte ich immer noch nicht erkennen. Aber es musste schon der spätere Nachmittag sein, denn die Sonne stand so niedrig, dass sie mir direkt in die Augen blitzte, sobald das untere Geäst der Bäume durchlässig war. Wir gingen langsam, Nicki dicht neben mir, nachdem er es aufgegeben hatte, mich noch einmal zur Wurstbude zu führen. Ich versuchte, an nichts zu denken, sondern mich ganz dem schönen, verschwommenen Bild, in dem ich herumspazierte, hinzugeben. Für ein paar Schritte schloss ich die Augen, atmete mit offenem Mund die milde, von Blütendüften durchwehte Luft ein; es kam mir vor, als würde ich mit jedem Schritt leichter, bis alle Schwermut, die den wundersamen Irrsinn dieses Tages fast verdorben hätte, von mir wieder abgefallen war. Ich zündete mir eine Zigarette an, inhalierte den Rauch tief und genoss den leichten, die Fehlfunktion meiner Augen harmonisch ergänzenden Schwindel, der mir für kurze Zeit in den Kopf stieg. Jogger überholten uns, Spaziergänger kamen uns entgegen, auch einige Hunde, die Nicki gleichmütig vorüberziehen ließ. Was für ein Tag, was für ein sonderbarer Tag, dachte ich wieder. Wir trieben ziellos durch den Park, Nicki und ich; die seltsamen Geräusche und Schreie, die ich vorhin noch unbedingt ergründen wollte, hatte ich fast vergessen.
    In einiger Entfernung von uns sah ich eine junge Frau, die mich an Fanny erinnerte. Sie war groß, schmal, hatte langes, hellbraunes Haar, ihre Kleidung konnte ich nicht genau erkennen, aber sie trug dunkle Hosen, auch das Oberteil, Jacke oder Bluse, war dunkel. Neben ihr lief ein älterer Mann, etwas beleibt, mit schwerem Gang, wie ich mir Bernhard vorstellen konnte nach all den Jahren, in denen ich ihn nicht gesehen hatte. Ein schmerzhafter Schreck fuhr mir in den Magen. Der Friedhof befinde sich gleich nebenan,
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