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Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Titel: Zwischenspiel: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Maron
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ich mich so auf unseren unvermeidlichen Abschied vorbereitete, fiel mir ein, dass ich Nicki als Beweis für diesen Tag fotografieren könnte, denn es wäre ja möglich, dass ich schon morgen selbst nicht glaubte, was ich heute erlebt hatte. Ich zog mein multifunktionales Telefon aus der Tasche, fand mit einiger Anstrengung die Kameraeinstellung, rief Nicki, und als er mich aus seinen blauen Augen ansah, tippte ich auf den Auslöser. Auf dem Display erkannte ich jetzt zwar nicht mehr als einen gelben Fleck vor grünem Hintergrund, aber später, wenn der Schleier vor meinen Augen sich verzogen haben würde, könnte ich sicher sein, dass ich diesen Tag im Park wirklich erlebt und nicht nur geträumt hatte.
     
    Ich ließ das Telefon zufrieden in meine Tasche gleiten und stieß im gleichen Augenblick, ohne dass ich mir erklären konnte, wie und warum, frontal mit einer Gestalt zusammen, die aus dem Nichts direkt vor mir aufgetaucht sein musste. Obwohl ich sofort einen Schritt zurücktrat und mich entschuldigte, stieß der Mann mich grob von sich, so dass ich beinahe hintenüber gestürzt wäre.
    Erschrocken versicherte ich ihm noch einmal, dass es mir leidtue und ich ihn wirklich nicht gesehen hätte, worauf er mir mit einem Lachen, das eher feindselig als freundlich klang, den Weg verstellte und sagte, so sei es recht, er remple mich an, und ich hätte mich dafür zu entschuldigen. So sei nun einmal die Regel.
    Er war nicht besonders groß, schmal, das Gesicht knochig, darin ein weicher, gleichgültiger Mund und erschreckende Augen. Ich sah den Mann so klar und deutlich wie Bruno, Olga und Erich, was mich verwunderte, weil ich ihn nicht kannte, jedenfalls konnte ich mich nicht erinnern, ihm schon einmal begegnet zu sein. Und das bedeutete, dass ich kein Bild von ihm in meinem Kopf haben konnte, ihn also so flimmerig sehen müsste wie alles andere um mich herum, wie Nicki, den Park, den Wurstverkäufer, die boshafte Frau mit ihrem Kind. Nur seine Augen, dieser unfassbare, weil nicht auf das Gleiche gerichtete Blick, ließen in meinem Hirn etwas aufflackern, nichts Bestimmtes, nur den zuckenden, keine Spur hinterlassenden Blitz einer Erinnerung.
    Welche Regel?, fragte ich.
    Meine, sagte der Mann.
    Die Begegnung war mir unangenehm, vielleicht hatte ich sogar Angst. Ich hielt es für möglich, dass der Mann verrückt war, einer jener intelligenten Psychopathen, denen man die Verrücktheit erst anmerkte, wenn es zu spät war. Auch Nicki wirkte verunsichert, sein Schwanz, den er sonst selbstbewusst aufstellte, klemmte zwischen den Beinen, seinen warmen, pochenden Brustkorb spürte ich an meinem Bein.
    Ich wünschte dem Mann einen guten Tag und wollte weitergehen, aber er hielt mich zurück. Er hätte sich mit mir eigentlich unterhalten wollen, sagte er.
    Warum mit mir? Wir kennen uns doch gar nicht, sagte ich.
    Sie
kennen
mich
nicht, sagte er mit einem demonstrativ überlegenen Lächeln, das so ungeschickt wirkte wie jene plumpe Ironie, die Anführungszeichen benötigte, um auf sich aufmerksam zu machen.
    Sie wohnen in der Winterfeldtstraße, Sie parken äußerst ungeschickt, kaufen am Sonnabend auf dem Markt ein, Sie haben eine Tochter, leben allein, gehen in der Regel morgens um neun aus dem Haus und gehören zu der Spezies Mensch, die sich beim Überqueren der Straße darauf verlässt, dass Autofahrer nichts mehr fürchten, als zum Mörder zu werden. Sie sind wenigstens hundertmal an mir vorbeigegangen, ohne mich zu sehen. Darum wissen Sie nun nichts über mich, und das ist schlecht für Sie. Möglicherweise ist es aber auch gut, weil Sie sich anderenfalls vielleicht vor mir fürchten würden, und das wäre noch schlechter für Sie.
    Während er sprach, ließ er mich nicht aus den Augen, das heißt, er ließ mich nicht aus seinem linken Auge, das rechte, dunklere, sah an mir vorbei, obwohl man nicht hätte sagen können, dass der Mann schielte, nur eine kleine, irritierende Abweichung, ein stabiles rechtes Führungsauge, dem das linke, mit mehr Bewegungsfreiheit ausgestattet, folgte, so dass es schien, als hätte der Mann gleichzeitig ein nahes und ein fernes Ziel im Blick. Obwohl ich sicher war, den Mann nicht zu kennen, glaubte ich, in diese Augen früher schon gesehen zu haben, ich wusste nur nicht, wann und wo, auch nicht, ob sich mit dieser ungenauen Erinnerung etwas Unangenehmes oder Schönes verband.
    Warum sollte ich Sie fürchten, fragte ich.
    Ja, warum fürchtet man sich vor Menschen, sagte er.
    Ich sagte, dafür
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