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Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Titel: Zwischenspiel: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Maron
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er lebt in uns. So wie das Kind. Der Gedanke gefiel mir. Es wäre ja auch möglich, dass wir das eine Ich vergessen müssen, wenn wir ein anderes geworden sind, dass wir es als kalte Daten und Fakten bewahren, alles andere aber vergessen, weil wir sonst verrückt würden. Vielleicht sind die seltsamen Geschichten über multiple Persönlichkeiten, von denen es in amerikanischen Filmen vor einigen Jahren nur so wimmelte, vielleicht sind das alles nur Geschichten über Leute, die sich von ihren Ichs nicht trennen konnten und in denen dann alle möglichen Stimmen durcheinanderredeten. Sogar für die einfache Schizophrenie wäre die Überlegung, ob es sich dabei um eine missglückte zwanghafte Ich-Bewahrung handeln könnte, möglicherweise sinnvoll.
    Das Telefon unterbrach mich in meinen anthropologischen Mutmaßungen. Fanny wollte wissen, ob wir gemeinsam zum Friedhof fahren sollten.
    Ich hätte hinterher einen wichtigen Termin und brauchte mein Auto, sagte ich.
    Wir verabredeten uns vor dem Friedhof. Ich hatte keinen Termin, wollte aber von Fanny, die sicher nach dem Begräbnis mit der Familie zum Essen oder Kaffeetrinken gehen würde, nicht abhängig sein.
    Auch als Mutter hat man wenigstens zwei Ichs, dachte ich, wahrscheinlich sogar drei oder vier, das vierte kannte ich noch nicht. Am Anfang war das Wunder, wenn auch das gewöhnlichste Wunder der Welt, an dem jede Maus, jede Katze, eben jedes Säugetier, vorausgesetzt es war weiblich, teilhaben konnte. In mir war auf eine biologisch erklärbare und trotzdem nicht zu begreifende Weise etwas gewachsen, das an einem Tag noch ganz zu mir gehörte, in meinem ungeheuren Bauch, und am anderen Tag ein eigener Mensch war. Darüber zu sprechen war müßig, weil es an jedem Tag weltweit viel zu oft passierte, und das schon seit Tausenden von Jahren. Trotzdem blieb es ein Wunder, jedenfalls für jede, der es widerfuhr. Das erste Mutter-Ich lebt im Zustand des reinen Glücks, das mit jedem Tag vollkommener wird, denn das Objekt seiner Liebe erhebt es mit wachsender Bewusstheit ins Göttliche, zur Quelle allen Glücks. Und wer das unersetzbare Glück eines anderen ist, vergisst die Fragen nach dem Sinn seines Daseins; er, in diesem Fall sie, hat ihn gefunden, wenigstens für zehn, vielleicht elf Jahre, bis das Kind zu ahnen beginnt, dass die Mutter nur über den allerkleinsten Teil des Glücks in der Welt verfügt, dass sie manchem Glück sogar im Wege steht. Vielleicht denkt das Kind auch hin und wieder, mit einer anderen Mutter wäre es ihm besser ergangen. Ganz allmählich schuf es sich einen mutterfreien Raum. Zum Glück der Kinder flüchten die meisten der entthronten Mütter in ein Doppelleben. Ihr erstes Mutter-Ich leben sie in der Erinnerung fort und nähren daraus ihre Kraft, die Zurückweisungen, Kränkungen und Schuldsprüche der folgenden Jahrzehnte zu ertragen. Viele schaffen sich Hunde an.
    Vielleicht ergeht es den Vätern ähnlich, aber von Vätern verstand ich nichts, ich hatte keinen, jedenfalls nicht lange. Mein Vater war gestorben, als ich vier Jahre alt war. Er kam mit einer durchlöcherten Lunge aus russischer Gefangenschaft, zeugte mit letzter Kraft ein Kind, saß dann noch fünf Jahre in dem grünen Sessel am Fenster im Wohnzimmer und kämpfte mit jedem Atemzug um sein Leben. Ich erinnerte mich an den röchelnden Mann im Sessel wie an einen Fremden, Unberührbaren, nichts sonst, kein Lächeln, kein Spiel, kein Lied. Er war doch schon viel zu schwach, hatte meine Mutter gesagt. Nach dem Tod des Vaters blieben wir fünf Jahre allein, die Mutter und ich. Das war die Zeit, in der ich mich in der Erinnerung als ein unbeschwertes, lachendes Kind sah: die Ausflüge mit den Freundinnen der Mutter und deren Kindern oder die Abende, wenn die Mutter mir vorlas, selbst als ich schon lesen konnte, oder wenn wir beim Abwaschen alberne Lieder sangen, »wenn der Topf aber nun ein Loch hat, lieber Heinrich, lieber Heinrich«. Dass der Mutter dieses vollkommene Glück nicht ausreichte, sondern dass sie einen fremden Mann in unser beider Leben holen musste, um selbst glücklich zu sein, kam für mich damals der Vertreibung aus dem Paradies gleich. Ich war zehn Jahre alt, als der Genosse Keller mit ein paar Umzugskisten und zwei klobigen Ledersesseln bei uns einzog, und achtzehn Jahre und zehn Tage, als ich selbst mit zwei Koffern und meinem Bettzeug auszog.
    Meine Mutter war dem natürlichen Ende des reinen Glücks zuvorgekommen. Nur dass es ausgerechnet der Genosse Keller
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