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Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Titel: Zwischenspiel: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Maron
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einen Raum um uns, und ich sah in der Ferne eine Lawine von gewaltiger Größe, ein weißes, von Schneestaub umnebeltes Monster, das lautlos auf mich zuraste, bis es mächtig und gefräßig über mir hing und mich im nächsten Augenblick verschlingen würde. Noch ehe das Licht wieder eingeschaltet und das Experiment für beendet erklärt wurde, wusste ich, dass ich gerade gesehen hatte, was ich seit Wochen fühlte und nicht einmal mir selbst einzugestehen wagte: etwas raste auf mich zu, das mich unter sich begraben würde, das ich fürchtete, wovor ich davonlaufen musste, so schnell ich konnte.
    Bernhard war auf einer Dienstreise in Sachsen oder Thüringen. Ich rief am nächsten Morgen beim Standesamt an und sagte die Hochzeit ab. Aufgeschoben oder aufgehoben, fragte die Frau. Aufgehoben, sagte ich.
    Als ich mit Fanny auszog, war die Narbe über Andys Stirn schon wieder von Haaren verdeckt. Aber in meiner Erinnerung hockte er schweigend im Krankenbett, um den zerbrochenen Schädel den dicken Verband, der nur Augen, Nase und Mund freiließ, ein sechsjähriger Junge, vor dem ich geflohen war.
    An Olgas Grab würde ich wahrscheinlich auch Andy treffen, er war jetzt einundvierzig, sechs Jahre älter als Fanny. Zum letzten Mal hatte ich ihn bei Olgas fünfundsechzigstem Geburtstag gesehen. Er saß die ganze Zeit neben Olga mit seitlich hängendem Kopf, als könnte der die Mitte nicht finden, sprach wenig, nur wenn er noch ein Stück Kuchen verlangte, meldete er sich energisch und schien sich sonst für das Geschehen ringsum kaum zu interessieren. Aber immer, wenn ich an ihn denken musste, was selten vorkam, saß er stumm und mit weißem Mull umwickeltem Kopf in meinem Erinnerungskeller.
    Damals war ich mir monströs vorgekommen, herzlos, gemein, niederträchtig. Den Mann mit seinem kranken Kind verlassen; einfach abhauen mit dem gemeinsamen Kind; das Schicksal hochmütig verweigern, das war nicht erlaubt. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich Bernhard die abgesagte Hochzeit erklärt hatte, wie ich ihm überhaupt mitgeteilt hatte, dass ich nicht zuständig sein konnte für seinen Sohn, der mehr Pflege brauchte als Fanny, ich aber Fannys Mutter war, nur Fannys Mutter, und dass ich ihn, Bernhard, nicht genug liebte, um auch die Mutter seines Sohnes zu sein. Irgendwie muss ich es ihm gesagt haben. Es fiel mir schwer, mir diese Szene als ICH vorzustellen. Ich will dieses Leben nicht, das mir plötzlich angetragen wird. Ich habe andere Pläne mit mir und meinem Kind. Ich gehe und dreh mich nicht um. So muss es ja gewesen sein. Das hatte ich getan, obwohl es mir vorkam, als sei nicht ich es gewesen, sondern eine Ruth, die es nicht mehr gab und deren Schuld mit ihrem Verschwinden getilgt war und der ich nachträglich dankbar sein musste für ihre tapfere Herzlosigkeit.
    Im vergangenen Jahr war ich sechzig geworden. Von meinen engen Freunden war noch niemand gestorben, aber im weiteren Bekanntenkreis mehrten sich die Todesfälle. Eigentlich hatte ich nicht das Gefühl, dass es schon Zeit sei für ein Lebensresümee, aber an Tagen wie diesem drängten sich diese sinnlosen Fragen nach dem Woher und Warum ungebeten in meine ziellosen, noch immer von dem unheilvollen Traum befangenen Gedanken. Was ist so ein Ich eigentlich, dachte ich, wenn dem alten Ich das junge so fremd ist, als gehörte es gar nicht zu ihm. Wo bleiben die ganzen Ichs überhaupt, die man in seinem Leben war und denen man das letzte immerhin verdankt? Das Problem ist, dass man nicht als der Mensch die Welt verlässt, als der man auf die Welt gekommen ist, dachte ich, verwarf den Gedanken aber gleich wieder, weil ich mich fragte, ob nicht vielleicht das Kind, das ich einmal war, mir von allen bisherigen Ichs am vertrautesten geblieben war. An das Kind konnte ich mich gut erinnern, besser als an alle folgenden Ichs, obwohl es zeitlich am weitesten entfernt war. Die Angst vor dem dunklen Treppenhaus, wenn das Licht nicht funktionierte, das Glück, als ich zum ersten Mal im Zirkus war, der Kummer wegen der untreuen Freundin, die Gerüche aus den Fenstern im Hof, das Fell eines kleinen Hundes unter der Hand, das waren warme Erinnerungen. Das Kind ist unser Urwesen, so wie der Urmensch der Ursprung des Menschen ist, unser unverwüstlicher Kern im Stammhirn, im Hypothalamus und im limbischen System. Den Steinzeit- und Bronzemenschen haben wir vergessen, über die Antike und Renaissance wissen wir nur, was wir gelesen haben, aber den Urmenschen können wir nie vergessen,
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