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Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Titel: Zwischenspiel: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Maron
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rückwärts, als Einziger, während alle anderen kompakteren Wolken sich von dem sanften, aus Westen wehenden Wind über meinen Kopf und weiter über das Dach meines Hauses ostwärts treiben ließen. Es konnte nur eine optische Täuschung sein, dachte ich, oder ein seltsames Strömungsphänomen, das ich noch nie beobachtet hatte. Ich suchte das Wölkchen im Himmelsstück über der Terrasse, fand es aber nicht mehr, es hatte sich aufgelöst oder war meinem Blick entzogen. Oder es hatte es gar nicht gegeben. Das Flirren vor meinen Augen blieb. Das Haus gegenüber, die Fenster, das Dach, die Krone der Platane lösten sich unter meinem Blick in tanzende farbige Punkte auf, die jeden Augenblick davonfliegen könnten, um sich an anderer Stelle wieder zusammenzusetzen. Ich bedeckte die Augen mit der Hand, zog ein paarmal tief und ruhig an der Zigarette. Hinter den geschlossenen Lidern sah ich immer wieder, wie die kleine Wolke auf mich zuschwebte, um dann, wie von einem Willen gelenkt, die Richtung zu ändern. Ich suchte nach einer Bedeutung, fand keine, die sich widerstandslos in meinen Erfahrungshorizont gefügt hätte, und entschied mich für die optische Täuschung. Auch als ich die Augen wieder öffnete, blieben die Konturen der Gegenstände seltsam beweglich, verdoppelten sich, zitterten, als befände sich alles um mich im Zustand drohender Auflösung. Ich war beunruhigt, fühlte meinen Puls, er schlug fest und ruhig hinter der Gefäßwand, meine Gedanken streiften flüchtig die Wörter Schlaganfall und Herzinfarkt, aber außer meinen irritierten Augen störte nichts mein Wohlbefinden. Ich hatte wohl nur zu lange in das gleißende Licht gesehen, dachte ich und zog mich zurück in die Wohnung. Ich sortierte das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine. Der Versuch, den Schreibtisch aufzuräumen, misslang, weil die Buchstaben auf den Zetteln und Briefen zappelten und zuckten wie Insekten, die mit ihren Beinchen in einer Honigpfütze festklebten. Im Radio lief eine Sendung über Darmkrebs und Vorsorge mit Hörerbeteiligung. Eine achtundsechzigjährige Hörerin aus Großburgwedel wollte von dem Professor aus Hamburg wissen, ob hartnäckige Verstopfung zu Darmkrebs führen könne. Ich schaltete ab.
    Ich verabscheute medizinische Ratgebersendungen, erst recht wenn es um Verstopfungen und Gedärm ging.
    Olga war mit ihren Krankheiten schamhaft umgegangen. Bei unserem letzten Gespräch, als wir unsere Verabredung verschoben hatten, sprach sie von Leibschmerzen, nichts Schlimmes, sie fühle sich nur nicht so gut. Ihre Stimme klang fest, nicht leidend, eher zuversichtlich. Drei Tage später kam sie ins Krankenhaus, es war ein Darmverschluss, sie wurde operiert, eine Lungenentzündung kam hinzu, dann multiples Organversagen, nach einer Woche war sie tot.
    Wenn ich an Olga dachte, erschien sie mir immer in dem gleichen Bild. Sie saß aufrecht im Sessel, die Beine eng beieinander, die Hände ineinander verschlungen auf den Oberschenkeln, das Haar am Hinterkopf zu einem Dutt gebunden. Sie trug eine dunkelblaue Strickjacke über einer hellen Bluse und einen schmalen, die Knie bedeckenden Rock. Es wäre übertrieben gewesen, Olga als eine elegante Erscheinung zu bezeichnen, obwohl ihre Art, den Rock, die Bluse und Strickjacke zu tragen, elegant wirkte. Jedenfalls fiel mir immer dieses Wort ein, wenn ich Olga zu beschreiben versuchte. Oder ich sagte, Olga sehe aus wie das Idealbild einer Pfarrersfrau oder als stamme sie aus einer alten Offiziersfamilie. Als ich sie kennenlernte, war Olga fünfundfünfzig Jahre alt und ihr ovales, sanft konturiertes Gesicht immer noch schön. Am schönsten waren Olgas Augen, die mich immer an ein bestimmtes Marienbild von El Greco erinnerten. Ein weicher Glanz lag auf diesen Augen, in denen jeder, auf den sie sich richteten, Zuneigung, mindestens Aufmerksamkeit finden konnte. An Olgas Erscheinung hatte sich in den Jahrzehnten, die wir uns kannten, nichts geändert, natürlich war sie älter geworden, aber in ihren Konturen, schmal, aufrecht und – wenn das Wort modisch für sie überhaupt in Betracht kam – gleichbleibend altmodisch, war sie bis zum Schluss die Gleiche geblieben.
    Ich war im dritten oder vierten Studienjahr, als Bernhard mich an einem Sonntag seinen Eltern vorstellte. Olga hatte einen Apfelkuchen gebacken. Ich erinnerte mich an ein Kaffeeservice mit Jagdmotiven, das ich spießig fand. Damals fand ich wahrscheinlich alles spießig, was nicht dekorlos und bauhausähnlich war, und
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