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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer
Autoren: S Dessen
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höllische Schmerz sich in seiner Brust ausbreitete. Ich werde es niemals erfahren.
    In den ersten Tagen nach seinem Tod fiel mir der Gutschein ein paar Mal ein und ich überlegte, was er mir wohl hatte schenken wollen. Obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass es sich nicht um ein
E.I.N.fach
-Produkt gehandelt hätte, fand ich es irgendwie tröstlich, dass die Pakete aus Waterville, Maine, weiter an uns geliefert wurden. Als würde er sich Monat für Monat bei mir melden, um sein Versprechen zu halten.
    Deshalb holte ich jedes Paket, das meine Mutter wegwarf, wieder aus dem Müll, brachte es in mein Zimmer und legte es zu meiner ständig wachsenden Sammlung. Ich probierte keins der Produkte je aus, las immer nur die flammenden Beschreibungen auf den Verpackungen und stellte mir dabei vor, wie das Teil funktionierte. Das genügte mir. Es gab viele Möglichkeiten, meinen Vater in Erinnerung zu behalten. Ich vermute, diese hätte ihm besonders gut gefallen.

Kapitel 2
    Meine Mutter hatte mich gerufen (»Macy, die Gäste trudeln ein«), und zwar schon zweimal (»Macy? Liebes, wo bleibst du denn?«), doch ich stand immer noch vor dem Spiegel und zog mir den Scheitel nach, mal rechts, mal links und wieder zurück. Wie oft ich mit meinem Kamm auch loslegte   – die Frisur wollte und wollte nicht sitzen.
    Früher war mir egal gewesen, wie ich aussah. Ich meine, prinzipiell wusste ich ja, wie ich aussah: etwas klein für mein Alter, rundes Gesicht, braune Augen, um die Nase Sommersprossen, die früher mal ziemlich markant gewesen waren, doch jetzt musste man schon dicht rangehen, um sie überhaupt zu sehen. Meine blonden Haare wurden im Sommer heller oder   – sofern ich zu oft schwimmen ging   – leicht grünstichig, was mir nichts ausmachte, weil ich ein absoluter Sportfanatiker gewesen war, praktisch meine gesamte Freizeit auf dem Sportplatz verbracht hatte und zu den Mädchen gehörte, für die das Wort Frisur gleichbedeutend ist mit »immer ein Haargummi ums Handgelenk tragen«. Mein Körper oder wie ich aussah, war mir wie gesagt egal; für mich zählte, was mein Körper tun oder wie schnell er sein konnte. Doch seit ich beschlossen hatte die Perfekte zu mimen, gehörte es für mich dazu, auf mein Äußeres zu achten. Das war wichtig für mein neues Image als Ruhige,Besonnene, Vernünftige. Auftreten und Aussehen mussten schließlich zur Rolle passen.
    Was allerdings Arbeit machte. Die Frisur musste perfekt sitzen, und wenn meine Haut sich weigerte mitzuspielen, benutzte ich Abdeckstift und sparsames Make-up gegen dunkle Augenränder und rote Flecken. Ich konnte bis zu einer halben Stunde allein damit zubringen, Lidschatten aufzutragen und meine Wimpern mit der Wimpernzange zu bearbeiten, bis sie sich überall gleichmäßig nach oben bogen. Und wenn ich anschließend mit dem Bürstchen darüberfuhr, um die dickflüssige, dunkle Wimperntusche zu verteilen, und dabei sorgfältig darauf achtete, dass die feinen Härchen nicht zusammenklebten, verging leicht noch eine halbe Stunde. Ich bürstete, striegelte, kämmte, salbte, tupfte. Hielt mich gerade und aufrecht. Alles war in schönster Ordnung. Klar geht’s mir gut, was sonst?
    »Macy?« Die energisch muntere Stimme meiner Mutter, die anscheinend am Fuß der Treppe stand, schwebte aus dem unteren Stockwerk zu mir hoch. Ich trat einen Schritt vom Spiegel zurück, strich ein letztes Mal mit dem Kamm über die Kopfmitte und machte eine gekonnte, schwungvolle Kopfbewegung, damit meine Haare rechts und links vom Scheitel herunterfielen. Endlich perfekt. Und gerade noch rechtzeitig.
    Als ich nach unten kam, stand meine Mutter an der Haustür und begrüßte ein Ehepaar, das gerade hereingekommen war. Sie hatte ihr Verkaufslächeln aufgesetzt: selbstbewusst, aber nicht auftrumpfend, herzlich, aber nicht anbiedernd. Meine Mutter legte ebenso großen Wert auf ihr Äußeres wie ich. Davon hing ab, ob man überlebte oder unterging, im Immobiliengeschäft genauso wie auf der Highschool.
    Als sie meine Schritte auf der Treppe hörte, wandte siesich zu mir um. »Da bist du ja. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
    »Frisurprobleme«, sagte ich. Ein weiteres Paar kam gerade die Stufen zur Haustür hoch. »Was soll ich tun?«
    Meine Mutter warf einen Blick Richtung Wohnzimmer, wo sich bereits ein paar Leute vor den Plakaten mit Ansichten der neuen Wohnanlage versammelt hatten. Immer wenn meine Mutter Kaufverträge unter Dach und Fach bringen musste, gab sie solche Cocktailpartys;
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