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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer
Autoren: S Dessen
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Reihenfolge dazugehörten. Zu meinem eigenen Namen! Am Ende riet ich mich irgendwie durch.
    Macbeth
überforderte mich daher komplett. Ich blickte|8|gar nichts. Das ganze Wochenende über hatte ich mich mühsam durch den Text gekämpft, hatte versucht die altertümliche Sprache und die seltsamen Namen auf die Reihe zu kriegen, und die Geschichte dennoch kaum begriffen, nicht mal in ihren Grundzügen. Nun schlug ich schicksalsergeben meinen
Macbeth
auf und starrte auf die Zeilen:
Wär ich gestorben, eine Stunde nur,   /Eh dies geschah, gesegnet war mein Dasein!   / Von jetzt gibt es nichts Ernstes mehr im Leben:   /Alles ist Tand, gestorben Ruhm und Gnade!
    Fehlanzeige, dachte ich. Nichts. Zu meinem Glück hatte Jason a) bereits Übung darin, bei Gruppenarbeiten den Ton anzugeben, und b) nicht vor, den Erfolg oder Misserfolg dieser speziellen Gruppenarbeit plus der dazugehörigen Zensur anderen zu überlassen. Er schlug sein Heft auf, holte einen Stift aus der Tasche und schraubte die Kappe ab. »Als Erstes suchen wir uns die Grundthemen des Stücks heraus«, erklärte er mir. »Dann überlegen wir uns, welches wir bearbeiten.«
    Ich nickte. Unsere Klassenkameraden um uns herum schwatzten laut und angeregt, da konnte unser Englischlehrer, Mr Sonnenberg, mit matter Stimme noch sooft um Ruhe bitten.
    Jason ließ die ersten paar Zeilen frei und notierte dann in ordentlichen Druckbuchstaben das Wort
Mord
; seine Bewegungen beim Schreiben waren rasch und präzise. Weitere Wörter folgten:
Macht. Ehe. Rache. Prophezeiung. Politik.
Man bekam den Eindruck, er hätte ewig so weiterschreiben können, doch unvermittelt hielt er inne und sah mich an: »Was noch?«
    Erneut warf ich einen Blick auf die Seite vor mir; als könnten sich die Wörter plötzlich doch dazu durchringen, verständliche Sätze zu bilden. Ich spürte, wie Jason mich ansah.Nicht unfreundlich, nicht drängend, bloß abwartend. Dass ich auch etwas beitrug.
    »Ich weiß nicht . . .«, begann ich schließlich, unterbrach mich jedoch wieder, weil die Worte am Gaumen festklebten. Schluckte, unternahm einen neuerlichen Anlauf: »Eigentlich verstehe ich nur Bahnhof.«
    Ich rechnete fest damit, dass er mir daraufhin einen ähnlichen Blick zuwerfen würde wie vorhin Amy Richmond. Doch zu meiner Überraschung legte er seinen Stift auf den Tisch und fragte: »Was genau verstehst du nicht?«
    »Alles«, entgegnete ich, und als er daraufhin   – entgegen meiner Befürchtung   – nicht die Augen verdrehte, fügte ich hinzu: »Ich meine, ich weiß, dass es einen Mordplan gibt und einen kriegerischen Angriff, aber der Rest . . . keine Ahnung. Ich finde die Geschichte so was von verwirrend.«
    Er nahm den Stift wieder in die Hand. »Der Text ist nicht so kompliziert, wie du denkst«, meinte er. »Man muss mit der Prophezeiung anfangen, die ist der Schlüssel, um das Stück zu verstehen. Hör zu . . . Moment . . . hier . . .« Beim Reden blätterte er sein
Macbeth
-Exemplar durch, bis er auf eine bestimmte Textpassage stieß, die er mir laut vorlas. Und als sein Finger dabei von Wort zu Wort wanderte, war es, als würde er sie wie von Zauberhand verändern. Denn plötzlich ergaben die Worte einen Sinn.
    Und ich fühlte mich getröstet. Endlich. Ich hatte eine Ewigkeit darauf gewartet, dass mir jemand alles, was passiert war, erklärte. Einfach nur ruhig und systematisch erklärte. Was anderes wollte ich doch gar nicht. Nur, dass alles ordentlich untereinander auf einem Blatt Papier stand, nach dem Motto: Wenn das geschieht, folgt daraus das und dann das und so weiter. Tief innen wusste ich zwar, dass esnicht so war und die Dinge viel, viel komplizierter lagen. Dennoch gab Jason mir Hoffnung. Er räumte mit dem Chaos auf, als das ich
Macbeth
empfand. Vielleicht war er ja in der Lage, das Gleiche für
mich
zu tun? Deshalb rückte ich ein wenig dichter an ihn heran und habe mich seitdem nicht mehr von dort wegbewegt.
    Jason zog den Reißverschluss der Laptoptasche zu, stellte sie zu den übrigen Gepäckstücken und ließ seinen Blick ein letztes Mal prüfend durchs Zimmer wandern. »Also gut, dann mal los.«
    Als wir aus dem Haus kamen, warteten seine Eltern bereits im Wagen. Mr Talbot stieg jedoch wieder aus und öffnete den Kofferraum des Volvos, damit er und Jason alles verstauen konnten. Ich setzte mich schon mal nach hinten und schnallte mich an. Mrs Talbot wandte sich mit einem Lächeln zu mir um. Sie und ihr Mann waren Dozenten an der Uni, sie für Botanik, er für
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