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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten
Autoren: Michael Wallner
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Marianne zeigte auf das Gemälde mit den stürmenden Pferden; er schlug den gläsernen Mandarin vor, aus dessen Kopf der Lampenschirm wuchs. Sie erreichten den fensterlosen Flur, standen vor der Tür von Eriks totem Bruder; dessen Witwe lebte dahinter so geräuschlos, als sei sie ihm schon gefolgt. Leise wollten die beiden ins Wohnzimmer weiter, als das schwere Tak in ihr Bewußtsein drang. Gemeinsam drehten sie sich um; brauchten nur ein paar Sekunden zu warten, bis das Räderwerk sich in Bewegung
setzte, die zapfendicken Gewichte nach unten sanken und das Schlagwerk blechern die Viertelstunde läutete. Erik sah Marianne an, ihre Augen sagten Ja.
    Â»Ob man sie in den Kofferraum kriegt?« Der Vater stellte sich neben das Nußholzgehäuse.
    Â»Bestimmt.«
    Â»Zwei Speckseiten und zwei Flaschen Selbstgebrannten«, errechnete er den Gegenwert.
    Â»Nimm nur eine Flasche.« Sie kam zu ihm. »Wir brauchen Kartoffeln.«
    Â»Du hast recht.« Er legte den Arm um sie. »Und Wintersalat. Bis unser Garten was abwirft, dauert es noch Wochen.«
    Während er sprach, glitt ihre Hand über die Kleidertasche, sie sehnte sich nach der nächsten Zigarette.

    Ab Mittag verfiel das Lager in Schläfrigkeit. Der Officer kam aus dem Speisesaal nicht zurück und überließ es dem Sergeant, wieviel unerledigt blieb; der Sergeant überließ es Inga. Sie schrieb die Bestellung für acht fehlende Persennings, mahnte die Vergaserkappen an und gab die Wochenliste der Wäscherei durch. Der batteriebetriebene Plattenspieler, Sonderwunsch des Commanders, wurde als dienstlich deklariert.
    Der Transport in die Stadt ging eine halbe Stunde zu spät ab, sie hatte das eingerechnet und kam gerade zurecht, als die hintere Wagenklappe geöffnet wurde. Auf den Bänken der Ladefläche drängten sich sechzehn Engländer und Inga. Der Wagen rollte durch jene Landschaft, in der sie als Mädchen zum ersten Mal allein Rad gefahren war, über schlammige Wege, die rechteckig eingefriedeten Weiden entlang, unter Pappeln, die sich hoch in den Himmel reckten. Wie hätte sie damals wissen sollen, daß sie eines Tages hier arbeiten würde, in einem Büro mitten im Wald?
    Es war das Land zwischen den Meeren. Für die Menschen an beiden Küsten war die See ihr Arbeitsplatz, sie fuhren übers baltische
Meer, in die dänischen Buchten und weiter nach Schweden. Sie bewirtschafteten die Inseln im Westen, Pellworm, Amrum und Sylt, ihre Siedlungen waren auf hingeschütteten Hügeln errichtet und durch Deiche geschützt. Grüngelbe Zungen schoben sich ins Wasser, Weiden, durchbrochen von leuchtendem Raps. Fuhr man tiefer ins Land, begrenzten Buschhecken die Felder, die Herrenhäuser waren umstanden von Buchen, manche Kirche aus Backstein wurden von verspielten Zwiebeltürmen gekrönt. Ingas Stadt lag in der Mitte des schmalen Landes, doch auch hier war die Nähe zum Meer zu spüren. Kein Bürgerhaus hatte mehr als drei Stockwerke, der gotische Bau von Sankt Johannis überragte sie alle. Föhrden wurde von mittelalterlichen Türmen begrenzt, die Friedhöfe lagen außerhalb, denn das Grundwasser stand hoch; die Toten mußten in flacher Erde bestattet werden. Ein König von Dänemark und Herzog von Schleswig und Holstein hatte den Ort 1615 zur Stadt erhoben, deren einzige Besonderheit die warmen Moorquellen waren, mit deren Schlamm damals wie heute das Rheuma behandelt wurde.
    Die Engländer waren über die Helgoländer Bucht gekommen und hatten die Häfen besetzt. Gekämpft hatten sie weiter drüben, wo jetzt die Straße gebaut wurde; kein Schuß war hier in der Gegend gefallen. In Föhrden rückten sie ein, als alles vorbei war. Das lag noch nicht lange zurück.
    Die schweren Räder spritzten Morast über die Straßenränder. Keiner außer Inga sah, daß dort schon Feldblumen wuchsen, Narzissen und Himmelsschlüssel, dazwischen eine gerissene Panzerkette, rostrot, wie die Haut einer Schlange, abgeworfen in der Sonne. Der Soldat neben ihr starrte auf Ingas Knie, der Rock bedeckte sie nur zur Hälfte, auch der Mantel war kurz. Sie preßte die Waden aneinander, zog das Kopftuch enger, dachte an den weißhäutigen Leutnant. Aus der Dunkelheit war sie auf die Terrasse getreten und hatte ihm das Futteral übergeben. Statt eines Dankes nickte er nur, schien mit einem Mal sehr erschöpft. Sie hatte die
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