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Zur freundlichen Erinnerung

Zur freundlichen Erinnerung

Titel: Zur freundlichen Erinnerung
Autoren: Oskar Maria Graf
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eben zuteil gewordene Glück auskosten.
    Er griff nach seinem Geld. Er griff hastiger. Nichts.
    Seine Knie begannen zu schlottern, sein Herz stand jäh still. Er griff nochmal.
    Das ganze Geld war weg. Man hatte es ihm gestohlen.
    Er taumelte an eine Hauswand. Griff, suchte—suchte alle Taschen durch, vorsichtig, zitternd, furchtbar.
    Nichts mehr.
    Einen Augenblick stand er starr.
    Die Trambahn surrte vorbei. Ganz dünner Schnee fiel. Die Lichter flimmerten. Es rauschte, rauschte—und war doch grauenhaft still. So als ob alles wie ein fließendes Wasser leise um ihn herumflösse. Er hörte es nicht und hörte es doch, hörte es wie ein verborgenes, leises Kichern….
    Der Schnee fiel. Michel bewegte sich nicht von der Stelle.
    Lange.—
    Endlich gab er sich einen Ruck, rannte in die Wirtschaft zurück, auf den Tisch zu.
    Es war keiner mehr da. Er fuhr den Ordnungsmann an. Fragte, flehte, weinte. Vergebens.
    In sich zusammengesunken verließ er die Wirtschaft. Machte sich auf den Heimweg. Als er vor dem Haus stand, in dem er wohnte,—hielt er inne. Er griff nochmal in alle Taschen.
    Dann, als er die Treppen emporstieg, schien es, als hätte sein Gang wieder die gewöhnliche Ruhe und Gleichgültigkeit, mit der er sonst dahinschritt. Der Dunst des Zimmers schlug ihm ätzend entgegen. Es war still und düster. Die zwei Kinder lagen im Korb, in einem Berg von Lumpen, und schliefen. Anna saß am Tisch, die Petroleumlampe flammte ärmlich und bläulich üher ihre Hände.
    Gleichgültig schaute das Weib vom Sockenstopfen auf und rief: "Hast was gefunden?"
    Michel schwieg, drehte sich umständlich um und schloß die Tür. Dann, seinem Weib wieder zugewendet, sagte er: "Zuwas stopfst' Socken? … Brauchst bloß Licht."
    "Hast denn solang braucht?" fragte Anna und fixierte nunmehr die ungewohnte Kleidung ihres Mannes.
    "Ja …," sagte Michel und zog seinen Überzieher aus, "ist eine schöne
Strecke gewesen…."
    "Ist ein schönes Stück Gewand," sagte Anna wieder, als Michel näher ans Licht getreten war und sich auszuziehen begann, "sonst hat er also nichts gehabt?"
    Der Michel schnaubte ein paarmal auf. Dann rief er einsilbig: "Geh, leg dich nieder … für uns wär's besser gewesen, man hätt' uns im ersten Bad ertränkt … leg dich nieder, Alte!"
    Und plumpsig ließ er sich ins Bett fallen, daß die Federn knarzten.
Bald darauf lag auch Anna an seiner Seite.
    Am ändern Tage trug Michel den Überzieher aufs Leihamt und gab Anna das Geld.
    Wieder wie immer hockte er stumpfsinnig in der Wärmestube der
Arbeitsvermittlung.—

DIE LUNGE
    Die Arbeiterin Manztöter ist der Lungenschwindsucht erlegen. Sie war eine stille, fleißige Person. Sie schaffte sich auch etwas.
    Vor vier Jahren trat sie in die Zigarettenfabrik Zuccalisto ein. Bauernmagd war sie vorher gewesen. Eine von den vielen, die die Stadt anzog, der Verdienst und die Aussicht auf eine baldige, einigermaßen erträgliche Ehe vielleicht.
    Die Männer auf dem Lande waren plump und bedacht auf offene manchmal in den Stall, faßten sie an der Brust, packten ihr Kinn, leckten ihre Wangen. Ein rothaariger Knecht setzte ihr aufdringlich zu, stand und stand überall und schlug einmal sinnlos auf sie ein. Daraufhin floh sie in die Stadt.
    Sie änderte sich nicht, sparte, arbeitete und war fromm ohne Bigotterie. Noch immer las sie das Wochenblatt jedesmal aus und den Roman und hielt sich außerdem "Die christliche Dienstmagd". Unter dem vielen Gemisch von afrikanischen Missionsberichten, fand sie eines Tages die Geschichte eines Farmers in Südwestafrika, leis überhaucht von friedlich-fleißigem Eheidyll.
    Einem solchen sparte sie das Geld vielleicht.
    Vierhundert Mark hatte sie schon auf der Sparkasse. Noch vielleicht zwei Jahre oder längstens drei und es wären tausend gewesen. Tausend Mark!—
    Das ist schließlich nur Angewohnheit, daß man zur Vesper für fünfzig
Pfennig Käse oder ein Stück Wurst haben muß mit Bier. Kaffee mit einer
Semmel geht auch oder Gerstenauflauf von Mittag. Machte schon wieder
zwanzig Pfennig weniger.—
    Außerdem kann man sich wöchentlich zweimal zu den Überstunden melden. Sind auch wieder drei Mark fünfzig Pfennig für je eine Stunde. Man macht jedesmal drei, sind zusammen wöchentlich einundzwanzig Mark. Eineinhalb Tagelohn mehr. Dann, wenn man heimkommt, ist's meistens schon dunkel, man braucht kein Licht mehr, legt sich einfach gleich ins Bett und schläft ein, hat gar keinen Hunger mehr.—
    Zuletzt waren es schon sechshundert
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